Geostrategie im Ukrainekrieg: Europa in der Zwickmühle

Russland befindet sich im Krieg mit dem Westen. Zeit, über geostrategische Ziele der westlichen Alliierten zu sprechen – wie auch über Waffenlieferungen.

Charles Michel, Ursula von der Leyen (beide EU) und US-Präsident Joe Biden spazieren nebeneinander vor Bergkulisse

Seit' an Seit': Die EU-Repräsentant:innen Michel und Von der Leyen mit Joe Biden in Elmau

Die Beurteilung des sich in die Länge ziehenden Ukrainekriegs scheint einfach: Der Aggressor Russland greift völkerrechtswidrig nach einem unabhängigen Staat, um ihn militärisch in die Knie und zur Vasallenschaft zu zwingen. Dem in die EU und in die Nato strebenden Opfer Ukraine gehört unsere volle Solidarität. Und unsere Unterstützung nicht nur durch Worte, sondern auch durch Waffen ist moralische Pflicht. United we stand with Ukraine!

Dass die Sache nicht so einfach ist und dass es selbst geübten Beobachtern schwerfällt, sich eindeutig zu positionieren, liegt an den Dilemmata, die sich aus dem Krieg für uns Nato-Europäer*innen ergeben.

Die Debatte über die Lieferung schwerer Waffen, die sich als Zwickmühle praktischer Politik zeigt, hat dies verdeutlicht. Die Befürworter einer vorsichtigen bis zögerlichen Lieferstrategie argumentieren damit, dass eine Eskalation des Krieges auf jeden Fall zu vermeiden ist, weil er leicht zu einem großen europäischen, wenn nicht gar zum nächsten (nuklearen) Weltkrieg ausufern könnte. Das Liefern immer schwererer Waffen sei also ein Spiel mit dem atomaren Feuer.

Die Befürworter einer schnellen militärischen Maximalunterstützung hingegen argumentieren aus der historischen Lehre der falschen Appeasement-Politik gegenüber Hitlerdeutschland heraus mit der Notwendigkeit, den imperialistischen Bestrebungen Russlands einen Riegel vorzuschieben: Ein auf Ausdehnung ausgerichteter diktatorischer Angreifer verstehe nur die realpolitische Sprache der geballten Faust. Das Vertrackte in diesem Dilemma ist, dass beide Positionen triftige Gründe nennen und jeweils eigene unabschätzbare Gefahrensituationen erzeugen.

Bewusste Flunkerei

Die Risiken beider Strategien würden allerdings deutlicher, wenn sie nicht durch die bewusste Flunkerei, wir seien ja keine Kriegspartei und deswegen relativ sicher, verharmlost würde. Waffenlieferungen an einen angegriffenen Staat, der ein Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta hat, sind zwar in der Tat völkerrechtskonform, aber einen Aggressor, der das Völkerrecht bereits brutal gebrochen hat, mit dem Hinweis auf ebendieses belehren zu wollen, dass wir rein rechtlich gar nicht Kriegspartei seien, ist realitätsfremd. Wir sollten es offen aussprechen: Russland befindet sich im Krieg mit dem Westen.

Wir sollten es offen aussprechen: Russland befindet sich im Krieg mit dem Westen

Angesichts unserer möglichen direkten Betroffenheit lässt sich die Sorge vor einem „Überschwappen“ des Krieges leicht verstehen. Ein übergeordnetes Dilemma bleibt dabei jedoch im Schatten: Wir Eu­ro­päe­r*in­nen haben gute Gründe, es einerseits zu keinem scharfen Graben mit der Führungsmacht des Westens, den USA, kommen zu lassen. Andererseits haben wir ebenfalls gute Gründe, uns nicht vorschnell in eine Koalition der Willigen einzureihen.

Für die Geschlossenheit der westlichen Alliierten spricht: Jede, auch innereuropäische, Spaltung wird von der Russischen Föderation als Schwäche wahrgenommen und geschickt genutzt. Eu­ro­pa ist daher gut beraten, den Schulterschluss mit allen Nato-Alliierten zu üben – gerade mit den USA.

US-Produzenten verdienen sich eine goldene Nase

Zugleich aber sind die geostrategischen amerikanischen Interessen in diesem Krieg nicht identisch mit den europäischen. Dass Russland zu einem Paria-Staat wird, der in absehbarer Zeit keine fossilen Rohstoffe mehr an den Westen liefern wird, trifft Europa wirtschaftlich und sozial mit einer ganz anderen Wucht als die USA. Diese sind autonom und haben es mit ihren Fracking-Methoden geschafft, vor Saudi-Arabien und Russland zum weltgrößten Erdölproduzenten aufzusteigen. Amerikanische Erdgasproduzenten verdienen sich mit dem Verkauf von Flüssiggas nun eine goldene Nase, zusammen mit der US-Rüstungsindustrie. Zugleich ist die wirtschaftliche Verflechtung der USA mit Russland bei Weitem nicht so eng wie die zwischen der EU und Russland.

Zudem ist das, offen vom amerikanischen Außenminister erklärte geostrategische Ziel der USA, Russland so zu schwächen, dass es keinen Krieg dieser Art mehr führen kann, zwar auch aus europäischer Sicht nachvollziehbar, aber nicht zwingend im europäischen Interesse. Es erhöht das Risiko, dass Russland den Krieg gesamteuropäisch ausweitet. Unser Interesse, ihn schnellstmöglich zu beenden, ist aus existenziellen Gründen ungleich größer.

Für die USA hingegen käme eine Dauerbeschäftigung des großen Rivalen Russlands mit der Ukraine, einer Art von Afghanistanfalle, aus der sie jahrelang nicht herauskommen, nicht ungelegen: Man könnte sich stärker auf den Hauptrivalen China konzentrieren. Dass dabei die Ukraine Hauptverlierer ist und der Krieg dauerhaft in Europa bleiben könnte, wird wohl als möglicher Kollateralschaden in Kauf genommen.

Entzug durch schlichtes Ignorieren

Die Unvereinbarkeit zweier dringender Gebote – einerseits dem Aggressor Russland gegenüber als loyaler Bündnispartner der USA aufzutreten, andererseits aber amerikanische Interessen nicht bedingungslos zum Maßstab eigenen Vorgehens zu machen – führt in eine weitere Zwickmühle. Ihr entziehen wir uns allerdings gegenwärtig durch schlichtes Ignorieren. Europäische Interessen werden weder breit diskutiert, noch kann von einem eigenständigen europäischen Handeln auch nur ansatzweise die Rede sein, wie der G7-Gipfel aktuell eindrücklich bestätigt.

Erstes Ziel müsste aus europäischer Sicht ein schnellstmögliches Ende der Kampfhandlungen sein. Damit wäre der Konflikt zwar nur eingefroren, aber von dort aus ließe sich dann – möglicherweise erst in ferner Post-Putin-Zukunft – ein Versuch einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz starten.

Die Chancen darauf sind allerdings eher gering, zu groß ist die nationale Zersplitterung und die Machtlosigkeit der EU, auch eine gemeinsame, gut ausgerüstete europäische Armee ist unabsehbar. Um unsere europäischen Interessen ernster nehmen zu können, müssen wir aber mittel- und längerfristig geostrategisch und sicherheitspolitisch auf eigenen Beinen stehen.

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Der Autor, 55, lehrt als Akademischer Oberrat Politikwissenschaft und -didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er studierte Soziologie und Politik an der FU Berlin und der New School for Social Research in New York.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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