Blick auf eine englische Kleinstadt

Ein politischer Graben verläuft zwischen den Nachbarn in Tiverton Foto: Hannah McKay/reuters

Nachwahlen in Großbritannien:Kind of Blue

Zwei Wahlkreise verteidigen die Konservativen am 23. Juni. Dazu müssen sie den Spagat zwischen unterschiedlichen Wählenden schaffen.

23.6.2022, 11:49  Uhr

Ja, ich rede noch mit meinem Nachbarn – trotz des Schildes“, gesteht Pat Perryman. Die 83- Jährige ist eine Persönlichkeit in der südwestenglischen Marktstadt Honiton, da sie Textilausbilderin in der traditionellen Spitzenkunst ist.

Dort, wo sie wohnt, neben dem ehemaligen Armenhaus der Stadt, steht etwas Neues, womöglich Historisches: Ein großes quadratisches Schild in Orange. „Liberal Democrats Winning Here!“ steht darauf – hier gewinnen die Liberaldemo­kraten. Davor aber behauptet sich ein Schild in Blau, das Perryman hat aufstellen lassen, mit den Worten: „Helen Hurford. Lasst uns mit dem Job weitermachen“, und „Conservatives“. Auf einem Foto lächelt dazu eine Frau mit schulterlangen blonden Haaren vor ein paar Kühen.

Das ist Stadträtin Helen Hurford, hier aufgewachsen, ehemalige Grundschuldirektorin und jetzt Inhaberin eines Kosmetikgeschäfts. In einer Nachwahl am Donnerstag will sie den Wahlkreis „Tiverton and Honiton“ für die Konservativen verteidigen.

Der Wahlkreis ist politisch tiefblau, Tiverton und Honiton sind alte Wollhandel- und Marktstädte im ländlichen Devon, wo einige Dörfer sogar noch in mittelalterlichem Großgrundbesitz sind und die Älteren ihren Lebensabend an der kreideweißen Felsküste in Seebädern wie Seaton verbringen.

Vor einem Haus stehen zwei Schilder

Ein britischer Nachbarschaftsstreit: Liberal Democrats gegen Konservative Foto: Daniel Zylberstajn-Lewandowski

Der Wahlkreisabgeordnete schaute im Parlament Pornos

Kein Wunder also, dass sich hier 2019 der Konservative Neil Parish mühelos mit 60,2 Prozent der Stimmen wählen lassen konnte. Keine andere Partei holte mehr als 20 Prozent, die Li­be­ral­de­mo­kra­t:in­nen waren hinter Labour Dritte mit 14,8 Prozent.

Aber am 30. April trat der konservative Wahlkreisabgeordnete Parish zurück, nachdem man ihn zweimal dabei erwischt hatte, im Parlament auf seinem Smartphone Pornos zu gucken. „Ich suchte nach dem Dominator, einer Erntekombimaschine“, erklärte Parish zu dem Augenblick, als die Pornoshow plötzlich auf seinem Telefon erschien, während er auf den grünen Unterhausbänken saß. Weibliche Abgeordnete aus den eigenen Reihen schlugen Alarm.

Dass Parish dafür gehen musste, sehen hier vor Ort viele ein, und doch legen sie nahezu alle ein gutes Wort für den gefallenen Politiker ein. Parish saß seit 2010 für diesen Wahlkreis im britischen Parlament. Der 32-jährige ehemalige Soldat Brian, der gerade seine Kinder in die Schule gebracht hat, findet bei der Kaffeepause nur lobende Worte für Parish. „Neal setzte sich für mich ein. Jetzt haben sie mir ein neues Kniegelenk gegeben, obwohl andere sagten, ich müsste noch 15 Jahre warten.“

Doch die anderen in der Runde sprechen die gestiegenen Lebenshaltungskosten an. Selbst bei der Lebensmitteltafel gäbe es weniger als sonst. Alley, 45, die aufgrund einer Behinderung nicht mehr arbeiten kann, will deshalb Labour wählen. „Die Labour-Kandidatin war die Einzige, die bei uns anklopfte. Sie sagte, sie könne es nur versuchen, Menschen wie uns zu helfen.“ Wenigstens habe sie die Wahrheit gesagt, merkt Alley an – ein Wink mit dem Zaunpfahl auf Boris Johnson. Das idyllische Tiverton beschreiben die Vier beim Kaffeekränzchen als heruntergekommen, wo niemand auf soziale Probleme reagiere.

„Wer sonst könnte diese Arbeit machen?“

So manche konservative Wäh­le­r:in­nen sind davon überzeugt, dass eventuell mehr hinter den Pornoenthüllungen Neal Parishs steht. Die Fraktion habe sich eines unbequemen Abgeordneten entledigt, glaubt der 76-jährige George. Farmer Richard Bunning lobt Parish als jemanden, der sich „für die Landwirtschaft gegen den eigenen Landwirtschaftsminister“ gestellt habe und dafür abgesägt worden sei. Mit Hurford, die auf ihrem Wahlplakat vor Kühen posiert, schickten die Konservativen nun hier eine Kandidatin ins Rennen, die von Landwirtschaft keine Ahnung habe.

Auf der einzigen öffentlichen Wahlkampfdiskussion zwischen den Kandidaten vermied Hurford auch auf Nachfrage eine direkte Kritik an Boris Johnson. „Ich kann sagen, dass seine Absichten ernsthaft sind“, sagte sie zu einer Frage zu Partygate. Als Reaktion wurde sie lautstark ausgebuht.

Ein Mann steht vor einem Kuhstall

Landwirt Richard Bunning ist Labour-Mitglied Foto: Daniel Zylberstajn-Lewandowski

Doch Pat Perryman findet, dass Johnson „gute Arbeit unter schwierigen Bedingungen“ geleistet habe. „Wer sonst könnte diese Arbeit machen?“ fragt die 83-Jährige.

Wer von Boris Johnson hier genug hat, wählt nun LibDem, das bestätigten zahlreiche Befragte der taz. Im Wahlkampfbüro der Liberaldemokraten hört man von angereisten Par­tei­un­ter­stüt­ze­r:in­nen aus dem ganzen Land, sogar von den Orkney-Inseln nördlich von Schottland.

Seit 2010 warte man auf die Renovierung des Schulgebäudes

Perrymans Nachbar, der mit dem orangenen LibDem-Schild an der Mauer, ist der 66 Jahre alte Martin English. Er habe das orangene Schild aufgestellt, als das blaue bei der Nachbarin bereits stand, erzählt er. Doch English ist kein eigentlicher LibDem-Anhänger. „Eigentlich bin ich als jemand aus der 1960er-Jugend, der damals Marx las, für Labour, und meine Frau ist für die Grünen. Ich wähle LibDem, um so die Tories loszuwerden“. Manche sprechen sogar von einem möglichen inoffiziellen Pakt, wo Labour sich hier etwas zurückhalte, um den Liberalen zu helfen.

Landwirt Richard Bunning, einer der wenigen Labour-Mitglieder hier, versteht das. „Die LibDems sind der weiteste Sprung, den man von Menschen, die sonst konservativ wählen, erwarten kann“, glaubt er. Dass der liberaldemokratische Kandidat Richard Foord einst Soldat war, könne ihm da nur helfen, findet Bunning.

Bei der Podiumsdiskussion erhält Foord mehrmals Beifall, etwa als er angibt, dass Johnson nicht das einzige Wahlkampfthema sei. So warte man seit 2010 auf die Renovierung des Schulgebäudes.

Auch English sagt, dass er noch mit seiner Nachbarin redet. Man kennt sich eben.

Wie glaubwürdig ist jemand, der eigene Regeln bricht?

Ebenfalls am Donnerstag wird im Norden Englands ein neuer Abgeordneter gesucht, nachdem ein weiterer Tory, Imran Khan, am 3. Mai zurücktrat, weil gegen ihn ein 15 Jahre zurückliegendes Sexualdelikt offengelegt wurde: ein sexueller Übergriff auf einen Minderjährigen bei einer Party. Nun will an seiner Stelle Stadtrat Nadeem Ahmed den Sitz Wakefield für die Konservativen verteidigen.

Früher war Wakefield eine Kohlestadt. Vor dem Pub „Zum tiefen Fall“ erinnert eine Plakette vor einem in die Erde gesetzten Rad des ehemaligen Grubenaufzugs an sieben Bergleute, die 1973 im Schacht Lofthouse ums Leben kamen, als sie versehentlich in die Wand einer alten unter Wasser stehenden Grube stießen. Der 33-jährige Wirt zeigt auf ein Schwarz-Weiß-Bild aus den alten Tagen mit den damaligen Stammgästen. Damals war fast die ganze Gegend Gewerkschaftsland und fest in Labour-Hand. Aber 2019 holten die Konservativen Wakefield, zum ersten Mal seit 1932. Man wolle Englands Norden wieder aufbauen und den Brexit liefern, versprach Boris Johnson damals und siegte.

Und heute? Der Wirt Nick Stanley-Lunn antwortet mit einer Erinnerung aus dem letzten Jahr. Da durfte er seinen todkranken Opa wegen der Corona-Distanzregeln nicht besuchen. Zugleich wurde in 10 Downing Street unter Boris Johnsons Obhut gefeiert und gesoffen. „Unser Pub musste schließen. Trotzdem stand die Polizei mehrere Male vor unserer Haustür. Wir erhielten eine Geldstrafe, weil die Polizei der Meinung war, wir würden hier unerlaubte Treffen veranstalten, aber das stimmte nicht, wir sind nämlich eine achtköpfige Familie und leben alle gemeinsam im Pub, zu dem eine Wohnung gehört“, regt er sich auf.

Wochenlang plagte sich Stanley-Lunn mit der Polizei ab, bis sie einen Fehler eingestand. Wie anders war es doch für Boris Johnson und seine Leute in 10 Downing Street. „Wie kann man einem Mann Glaubwürdigkeit schenken, der seine eigenen Regeln bricht?“, fragt der Kneipenwirt. Die taz bekommt dies noch oft in Wakefield zu hören.

Labour-Chef Starmer sei einfach „nicht einer von uns“

Wird sich Wakefield also wieder auf Labour zurück besinnen? Stanley-Lunn ist sich dessen nicht sicher, trotz der Aversion gegen Boris Johnson. Das Problem sei Labourchef Keir Starmer. Immer wieder erzählen Menschen in Wakefield, dass sie sich für Starmer nicht erwärmen könnten, obwohl sie von seinem Vorgänger Jeremy Corbyn noch weniger hielten.

Stattdessen fallen andere Namen, alle aus dem Norden: Andy Burnham, der Bürgermeister Manchesters; Ed Balls, bis 2015 Abgeordneter im benachbarten Wahlkreis Morley and Outwood; Vizeparteichefin Angela Rayner. Sie alle seien besser als der Londoner Starmer, der einfach „nicht einer von uns“ sei. Stanley-Lunn glaubt, dass viele gar nicht ihre Stimme abgeben werden. „Sie haben genug von allen Politiker:innen.“

Vor einem Haus steht ein Schild der Labour-Partei

In Wakefield hat Labour keinen einfachen Stand Foto: Daniel Zylberstajn-Lewandowski

Rachel, 40, ist eine der Wenigen, die auf alle Fälle Labour wählen werden. Vor ihrer Haustür steht ein entsprechendes Schild. „Die gestiegenen Kosten machen die Leute hier fertig“, erzählt sie. „Trotz zweier Jobs, mein Ehemann und ich arbeiten, reicht es kaum.“ Aber auch für diese Mutter zweier Kinder ist Starmer nicht der Richtige. Sie bevorzugt seine Stellvertreterin Angela Rayner. „Sie kommt aus dem Norden, war eine alleinstehende Mutter ohne Ausbildung und musste alles nachholen. Sie versteht Menschen wie uns.“

Starmer ist nicht Labours einziges Problem. Als Labourkandidat Simon Lightwood, ein Sprecher der örtlichen Krankenversorgung, zur Nachwahl aufgestellt wurde, trat die gesamte Ortsverbandsführung Wakefields zurück. Ihr Argument: Lightwood stamme nicht aus Wakefield. Doch er hat viele Jahre in Wakefield gelebt und wohnt jetzt bloß wegen seines Jobs im Nachbarwahlkreis.

So richtig überzeugt wohl keine Partei

Somit kämpft ein Teil Labours hier gegen die eigene Partei – nicht dass dies neu wäre. Beim Besuch der taz in Labours Wahlkampfzentrale in Wakefield, zur Abgrenzung von der Corbyn-Ära geschmückt mit patriotischen britischen Flaggen, will sich niemand zur Wahl äußern. Stattdessen überreicht ein Mitarbeiter einen kleinen vorgedruckten Zettel mit der E-Mailadresse der regionalen Parteisprecherin.

Lynne Lightfoot, Strickwarenladenbesitzerin

„Wir brauchen ein großes politisches Erdbeben“

So richtig überzeugt scheinen die Leute von keiner Partei zu sein. „Wir brauchen ein großes politisches Erdbeben, mit neuen Programmen und Po­li­ti­ke­r:in­nen, die bei der Wahrheit bleiben“, glaubt Lynne Lightfoot, Besitzerin eines Strickwarenladens in Osset.

Sollten die Konservativen beide Nachwahlen am 23. Juni verlieren, würde das den Druck auf Boris Johnson erhöhen. Ein schlechtes Ergebnis für Labour in Wakefield hingegen würde die Probleme Keir Starmers vergrößern. Beide Spitzenpolitiker könnten unter Druck geraten, rechtzeitig vor den Wahlen 2024 ihren Platz zu räumen.

Bei den Konservativen geht es aber insgesamt um den Erhalt der Wählerkoalition, der Boris Johnson 2019 seinen Sieg verdankte.

Tories müssen verschiedene Wäh­le­r:in­nen unter einen Hut bringen

Tiverton und Honiton hat eine alteingesessene treue Tory-Wählerschaft, nahezu alle weiß und englisch. Ihnen geht es um niedrige Steuern, Sittlichkeit, Familie und den Schutz ländlicher Gegenden und deren Traditionen.

In Wakefield hingegen versuchen sich die Konservativen als neuer Repräsentant arbeitender Menschen anstelle von Labour, das als London-zentrierte Bourgeoisie dargestellt wird. Auffallend viele konservativ wählende Familien in Wakefield stammen aus dem Einwanderungsmilieu, vor allem Muslime aus Pakistan. Hier geht es um Chancengleichheit, Religionsfreiheit und die Möglichkeit, in der Geschäftswelt aufzusteigen.

Patriotismus und Kontrolle der Grenzen gegen neue Einwanderer ist in beiden Wahlkreisen ein Thema – ebenso die Hoffnung auf Investitionen. Für all das müssen die Konservativen nun stehen, und das lässt sich so leicht nicht unter einen Hut bringen.

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