Werkstattbesuch Odradek Records: Philanthropisches Laboratorium

In Pescara feiert Odradek, ein Non-Profit-Unternehmen für Klassik und Jazz, zehnjähriges Bestehen. Nun gewährt man Einblick in die Schaffensprozesse.

Labeleigenes Aufnahmestudio mit state of the Art Ausstatttung

Odradek hat natürlich ein eigenes Aufnahmestudio, „The Spheres“ Foto: Tommaso Tuzj

„John, was meinst du? Vielleicht könnten wir heute Abend ein paar Brahms-Walzer vierhändig spielen?“, sagt Artur Pizarro. „Ich kann nicht auftreten, ich habe zu viel gegessen.“ In der Tat war das Mittagessen sehr reichlich. Den Bruchteil einer Sekunde guckt John Anderson verdutzt, aber Pizarro grinst. „Du kannst auch einfach mein Album auflegen“, schlägt er noch vor, bevor er geht, um ein Mittagsschläfchen zu halten oder sonst etwas zu tun.

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Das befähigt ihn dazu, später unter anderem Beethovens „Appassionata“ und Chopins Etüden vor Publikum darzubieten. Sein Solo-Klavierkonzert wird der Höhepunkt der für den Abend geplanten Jubiläums-Festivitäten sein.

Der portugiesische Pianist Artur Pizarro ist der wohl berühmteste Künstler, der bei Odradek aufnimmt, einem Label, das der US-Amerikaner John Anderson vor genau zehn Jahren in Pescara an der italienischen Adriaküste gründete, um Mu­si­ke­r:In­nen die Gelegenheit zu bieten, hochwertige Einspielungen zu erschwinglichen Konditionen zu realisieren.

Künstler und Label auf Augenhöhe

„Ich habe damals vor allem für meine Frau nach Möglichkeiten gesucht, ein Album aufzunehmen“, erklärt Anderson, „aber Studioaufnahmen sind überall unglaublich teuer. Außerdem gibt es kaum irgendwo ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Künstlern und Label.“ Andersons italienische Ehefrau Pina Napolitano ist Pianistin, wie er selbst; sie haben sich während des Studiums kennengelernt.

Napolitano, die außerdem in Slawistik promoviert hat und auch als literarische Übersetzerin aus dem Russischen arbeitet, ist als Musikerin sowohl vielseitig als auch engagiert für Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Unter anderem hat sie sämtliche Schönberg-Klavierwerke bei Odradek eingespielt. Auch der Name des Labels stammt von ihr, beziehungsweise aus ihrer Kafka-Lektüre. In der Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ gibt es eine rätselhafte Figur namens Odradek, die sich jeder eindeutigen Definition entzieht.

Als sie damals über die Möglichkeit eines eigenen Labels sprachen, was es sein und wie es funktionieren könnte, habe sie diese Assoziation in den Raum geworfen, erzählt Pina: „But I was just joking!“ John hingegen habe den Namen sofort aufgegriffen. „Ich muss immer aufpassen, was ich sage“, fügt sie hinzu, „denn John setzt gerne jede Idee sofort in die Tat um.“ Einmal habe sie leichthin erwähnt, dass es schön sein könnte, einen Gong zu haben. „Und wenige Tage später kam zu meinem Geburtstag ein riesiges Paket mit einem Gong darin“, auf den nun alle Besucher ihrer Wohnung mit Wonne einschlagen würden, „zur Freude unserer Nachbarn.“

Multitaskender Labelmacher

John Anderson, so viel wird schnell klar, ist ein Macher. Von Haus aus ja ausgebildeter Konzertpianist, hat er außerdem auch noch in Oxford Musiktheorie studiert; doch seit der Gründung von Odradek dreht sich sein Leben um das Label, das schon längst mehr ist als das, sondern eher eine Art Dachorganisation, in der zahlreiche Projekte gedeihen.

Alle haben sie auf irgendeine Weise mit Musik zu tun, und realisiert werden sie typischerweise in der Welt des Digitalen – angefangen mit der Voting-Plattform Anonymuze, die eigens entwickelt wurde, um das Odradek-typische, sehr demokratische künstlerische Auswahlverfahren möglich zu machen. Welche KünstlerInnen ins Programm aufgenommen werden, entscheidet, analog zum Peer-Reviewing der Wissenschaftswelt, eine unabhängige Jury, die ausschließlich aus anderen Mu­si­ke­r:In­nen besteht, die ebenfalls bei Odradek veröffentlicht haben. Einreichungen sind genauso anonym wie Juryvoten, und im Falle einer Ablehnung erfährt kein Mensch – dafür sorgt das System –, wer wie abgestimmt hat oder wer aus welchem Grund abgelehnt wurde.

Das Odradek-Team besteht aus qualifizierten Freiberufler:Innen, die über halb Europa verstreut wohnen. Persönliche Treffen sind selten; schon vor Corona fanden Besprechungen meist virtuell statt. Zum zehnten Jubiläum aber hat Anderson alle nach Pescara eingeladen. Es ist eine große Feier, mitten drin auch eine Handvoll JournalistInnen (Transparenzhinweis: Die Kosten dieser Recherche wurden komplett von Odradek übernommen und ständig wurde die Presse mit absurden Mengen von erstklassigen Speisen und Getränken freundlich gestimmt), und zum abendlichen Festakt im Odradek-Aufnahmestudio The Spheres, durch den die Fernsehmoderatorin Valentina Lo Surdo (auch sie eine studierte Pianistin) führt, sind 85 Personen geladen.

Ein Familienunternehmen

Ein Knabensopran singt „Santa Lucia“, Valentina Lo Surdo interviewt Pina und John fließend zweisprachig, und dann tritt Artur Pizarro natürlich doch auf und konzertiert virtuos auf einem Steinway-Flügel, auf dessen Seite direkt unter dem Steinway-Logo in üppigen Goldbuchstaben der Name „Fabbrini“ prangt. Die Klavierbaufirma Fabbrini, ein traditionsreiches Familienunternehmen mit Filialen in ganz Italien, hat ihre Heimatbasis ebenfalls in Pescara. Da Angelo Fabbrini jeden einzelnen Konzertflügel, den er unter den Fittichen hat, einer individuellen Verfeinerung unterzieht, verfügt er über die Sonderkonzession, sein eigenes Logo mit auf einem solchen Steinway unterzubringen.

Beim Besuch im Fabbrini-Hauptquartier, das nur einen Steinwurf von Pescaras Strand entfernt liegt, zeigt Michelangelo Fabbrini, Sohn des Inhabers und Enkel des Firmengründers, die Namensschilder aus Messing, die innen an jedem der Konzertflügel angebracht sind und durch die Hände seines Vaters gegangen sind. Er hat allen einen Namen gegeben: Im großen Ladenraum stehen Picasso, Matisse, Miró, Monet und Cézanne.

Sein Vater verbinde damit verschiedene Klangfarben, erklärt Fabbrini der Jüngere, und im Übrigen habe die Namensgebung den Vorteil, dass die PianistInnen, die mit den Flügeln konzertieren, sich die Namen der Instrumente leichter merken könnten als Seriennummern.

Datensammlung zur Mikrofonierung

Fast so andächtig wie Fab­brini die Flügel wird John Anderson später am Abend bei einer Führung durch The Spheres seinen Tresorschrank präsentieren, in dem die Mikrofone aufbewahrt werden. Dabei erwähnt er nebenbei ein weiteres Projekt, das er ins Leben gerufen hat und das den Namen Micpedia trägt: Es soll die weltweit größte Datensammlung über Mikrofontechnik werden.

Und noch einen, wirklich spektakulären Superlativ hat Anderson zu bieten, nämlich „das größte abgeschlossene Aufnahmeprojekt aller Zeiten“, wie er sagt. Mehr als 6.500 Stunden Gesang hat sein Team in einem französischen Benediktinerinnen-Kloster aufgenommen, sämtliche Gesänge der gregorianischen Liturgie. Das dauerte insgesamt drei Jahre.

Da eine solche Menge Musik schwerlich in eine CD-Box passen würde, gibt es sie als App – mit Übersetzungen der lateinischen Texte in drei Sprachen. Derzeit hat ­Neumz (nach den Neumen, wie die Zeichen genannt werden, mit denen gregorianischer Gesang notiert wurde) weltweit bereits 14.000 User:Innen. Es gibt auch eine Gratisversion, mit der die jeweils aktuellen Gesänge des Tages abgerufen werden ­können.

Ständig neue Projektideen

Da John Anderson offenbar ständig neue Projektideen hat (von denen hier nur einige angerissen werden können), dürfte aber auch er, der immerhin über Einkünfte aus der familieneigenen Immobilienverwaltung in Kansas verfügt, auf Dauer darauf angewiesen sein, dass im Umfeld von Odradek Geld verdient wird. Sichtlich glücklich ist er, als er von vist.co (kurz für „Visual Storytelling Company“) erzählt, Odradeks Schwester-Unternehmen, das erst vor etwas über einem Jahr in Hamburg gegründet wurde und bereits gut im Geschäft ist mit der Kreation hochwertiger Videos für international bekannte Künstler:Innen.

Unglaublich genug, aber ihr allererster Kunde sei Warner gewesen, erzählt Anderson stolz: „Sie geben uns ein Budget, das es uns ermöglicht, künstlerisch Dinge umzusetzen, die wir für unsere eigenen Künstler nicht leisten könnten.“

Joyce DiDonato und Diana Damrau hätten sie für vist.co schon vor der Kamera gehabt. Dass sein künstlerischer Leiter Tommaso Tuzj so gar keinen Bezug zur klassischen Musik habe, sei bei der Umsetzung der Videos sogar von Vorteil, denn ihm fehle schlicht jene Art von Ehrfurcht vor den großen Stars, die seine Kreativität lähmen könnte.

Und während unter vist.co-Firmierung solides Geld mit visuellem Storytelling generiert wird, soll Odradek, das Label, dezidiert ein Non-Profit-Unternehmen bleiben. Umsonst ist es für die Mu­si­ke­r:In­nen zwar nicht, in The Spheres aufzunehmen, „aber“, schreibt John Anderson auf Nachfrage, „der Einheitspreis, den wir nehmen, entspricht etwa der Hälfte der tatsächlichen Kosten.“ Sein langfristiges Ziel sei es jedoch, diesen Preis irgendwann ganz auf null drücken zu können.

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