Soziale Gerechtigkeit: Landsleute mit ins Boot holen

Rund 13 Millionen Menschen leben in strukturschwachen Regionen. Ihre Situation und Expertise sollten bei der großen Transformation eine Rolle spielen.

Rund ein Dutzend Menschen sitzen auf einem Maibaum, der von einem Traktor gezogen wird

Öffentlicher Personennahverkehr auf dem Land in Bayern Foto: Armin Weigel/dpa

Der Begriff „Diversität“ steht im politischen Diskurs für einen bewussten und respektvollen Umgang mit Verschiedenheit und Individualität. Für die völkische AfD ist er ein Graus. Deutlich wird dies unter anderem an einem Beitrag in ihrem Mitgliedermagazin aus dem vergangenen Sommer. Dieser ist zynisch betitelt mit „Diversität bei Autos erhalten!“ Zusammengefasst lautet die Kernbotschaft sinngemäß:

„Die Großstadt Berlin gibt Geld aus, das sie nicht hat, für sinnlosen und fiesen Klimaschutz, der nichts bringt, außer dass die Armen verarmen. Wählt die AfD, damit ihr weiter Diesel und Benziner fahren könnt.“ In dem kurzen Artikel sind die Spaltungsversuche einfach zu erkennen: (Groß-)Stadt versus Land, Reich versus Arm, Klimaschutz versus Freiheit. Diese Lesart der Klimapolitik mag bei der Kernklientel der Rechtspopulisten funktionieren.

Diese Erzählung vom vermeintlichen Gegensatz zwischen scheinbar linksgrüner Stadt- und scheinbar konservativer Landbevölkerung passt zur Politik der einfachen Antworten der Rechtspopulist:innen. Sie darf sich aber nicht in anderen politischen Lagern breitmachen, denn sie gefährdet ein zentrales Ziel: die Bekämpfung sozia­ler Ungleichheiten im Rahmen der Klimapolitik.

Eine Befragung der ARD zeigte: „81 Prozent der Deutschen sehen sehr großen oder großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz – über Alters- und Parteigrenzen hinweg.“ Auch in extrem strukturschwachen Regionen Deutschlands, in Ost und West, ganz gleich ob Stadt oder Land, stehen Umweltthemen weit oben auf der Liste der Themen, die die Menschen für wichtig halten.

Ernstzunehmende Zukunftssorgen

Im Rahmen der Studie „Die Übergangenen – strukturschwach & erfahrungsstark“ führten wir in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung über 200 Haustürgespräche im Ruhrgebiet, Vorpommern-Greifswald, im Regionalverband Saarbrücken und Bitterfeld-Wolfen. Auf die Frage, was die großen Herausforderungen der Zukunft sind, nahmen Umwelt- und Klima den zweiten Platz ein, knapp hinter sozialen Herausforderungen.

Während Sorgen rund um die Klimakrise die Menschen sehr beschäftigen, bleibt ein Thema noch wichtiger: soziale Verwerfungen und Schieflagen. Vor allem dann, wenn man das direkte Lebensumfeld der Menschen aus strukturschwachen Räumen in den Blick nimmt. Nach den konkreten regionalbezogenen Zukunftssorgen gefragt, wird der Klimaschutz kaum noch genannt.

Mit beispiellosen Abstand rangieren die Antworten auf Platz eins, die mit „Abgehängtsein“ zusammengefasst werden können („keine Nahversorgung“, „kein Nahverkehr“, „stark verschuldet“). Auffällig war bei den Befragungen außerdem, dass die Menschen nicht die Sorge davor haben, eines Tages abgehängt zu werden, sondern in Zukunft abgehängt zu bleiben.

Menschen in strukturschwachen Regionen ist die Bedeutung des bevorstehenden sozial-ökologischen Wandels durchaus bewusst. Unsicherheit besteht jedoch darüber, ob sie Benachteiligte oder Pro­fi­teu­r:in­nen des Umbruchs sein werden. Die Menschen erwarten nicht einfach eine Bewältigung des Klimawandels, sondern eine sozial verträgliche Bewältigung des Klimawandels.

Wider die Spaltungsversuche

Der Blick in die Zukunft ist geprägt durch die Erfahrungen der Vergangenheit und diese sind nicht rosig. Politische Versprechen und wirtschaftliche Aussichten gingen zu häufig nicht auf. Viele leiden unter dem Eindruck, übergangen worden zu sein. Das Vertrauen in die politischen Re­prä­sen­tan­t:in­nen ist durch Skepsis geprägt. Die Hälfte der Befragten winkt kategorisch ab bei der Frage, welche Partei oder wel­che:r Po­li­ti­ke­r:in sich denn wirklich um die Sorgen der Menschen kümmere.

Diese Ergebnisse könnten erst einmal hoffnungslos stimmen. Müssen sie aber nicht. Denn auch wenn das Vertrauen in Po­li­ti­ke­r:in­nen marode ist, glaubt die Mehrheit der Befragten, dass die Demokratie den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel meistern kann. Mit der neu gewählten Ampelregierung bietet sich die historische Chance, das Ruder bei der Klimapolitik noch rechtzeitig herumzureißen, und zum anderen die Gelegenheit, strukturschwache Räume zu Ge­stal­te­r:in­nen des Wandels zu machen.

Dafür braucht es Geld, Gestaltungsmacht und Gehör. So würden die Versäumnisse der Vergangenheit, die strukturschwache Räume mit zu dem gemacht haben, was sie heute sind, nicht wiederholt und das Vertrauen in demokratische Prozesse und politische Re­prä­sen­tan­t:in­nen gestärkt. Die Bundesregierung kann es sich nicht erlauben, die 13 Millionen Menschen zu übergehen, die in strukturschwachen Regionen leben.

Diese Menschen haben einerseits Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse, zum anderen verfügen sie oftmals über Erfahrungen mit Transformation und Wandels, weil sie in jüngster Vergangenheit damit zu tun hatten. Die weitreichende Chance der großen Transformation liegt darin, dass sie auf dem Weg hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft Ungleichheiten ausgleicht und Menschen an der Zukunftsgestaltung teilhaben lässt.

Denn Klimaschutz und soziale Ungleichheiten müssen nicht um Wichtigkeit konkurrieren. Jedoch sind die aktuellen Spannungen rund um die Klimapolitik real, und das Potenzial zur Spaltung, das die AfD bespielt, ist nicht zu unterschätzen. Bei seiner Wiederantrittsrede warnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „Ich fürchte, die Gegner der Demokratie werden auch nach dem Ende der Pandemie nicht leiser werden.

Sie werden sich neue Themen suchen und vor allem neue Ängste, von denen es reichlich gibt in dieser Zeit (…) sie werden es tun mit dem großen Thema unserer Zeit: dem Kampf gegen den Klimawandel.“ Um den Spaltungsversuchen entgegenzutreten und die Ziele der großen Transformation zu erreichen, müssen Betroffene zu Pro­fi­teu­r:in­nen gemacht werden. Anfangen sollten wir damit in den strukturschwachen Regionen.

Das Progressive Zentrum und die Friedrich-Ebert-Stiftung stellen die Studie am Montag um 18 Uhr in Berlin vor.

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verantwortet den Schwerpunkt „Resiliente Demokratie“ des Progressiven Zentrums. Dort leitet sie u.a. innovative Dialogformate mit BürgerInnen, wie „Europa hört – eine Dialogreise“, und Projekte zum souveränen Umgang mit demokratiefeindlichem Populismus im öffentlichen Raum. Zuvor war sie als Mitbegründerin und Pressesprecherin bei der Initiative Kleiner Fünf tätig, die Menschen darin unterstützt, mithilfe “radikaler Höflichkeit“ gegen Rechtspopulismus aktiv zu werden. Zuvor arbeitete sie bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sowie der Krah AG.

verantwortet den Schwerpunkt „Green New Deal“ des Progressiven Zentrums. Zuvor war er Head of Policy and International bei Policy Network und Senior Research Analyst beim Centre for Progressive Policy, zwei Londoner Think-Tanks. Er hat an den Universitäten in Frankfurt und Greifswald in den Bereichen politische Soziologie und internationaler Politik gelehrt und geforscht.

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