Mit Punk und Pillen bei der Stasi

„Panzerkreuzer Rotkäppchen“ greift in einer performativen Installation in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg das Thema Medikamententests in der DDR auf

Von Tom Mustroph

Es ist schon bizarr, mit Punkrhythmen im Ohr vor einem wandgroßen Foto von Erich Mielke zu stehen, der in vollem Generalsornat seine zum Appell angetretenen uniformierten Spione begrüßt. „Harte Arbeit, gerechter Lohn auf der Pharmaversuchsstation“ lautet die Refrainzeile des Songs „Laborratte“ der längst aufgelösten Band Molotow Soda. Das stellt einen doppelten Kontrapunkt dar. Denn einerseits vermittelte das MfS – über seine Abteilung Kommerzielle Koordinierung (KoKo) – DDR-Patient*innen für Testreihen westlicher Konzerne. Andererseits bekamen diese für ihre harte Liege- und Einnehmearbeit in kargen Krankenhauszimmern gerade nicht den „gerechten Lohn“, der der 1986 in Bonn gegründeten Band angesichts dort üblicher Vergütungsregeln bei Pharmatests offenbar geläufig war. Außer zum Teil heftigen Nebenwirkungen hatten die Ost-„Laborratten“ nichts. Viele wussten nicht einmal davon, dass an ihnen nicht zugelassene Substanzen ausprobiert wurden. Was diese für den Schweizer Sandoz-Konzern organisierte Testreihe des Antidepressivums Brofaromin mit Testpersonen im Osten bewirkte, erzählt die Schauspielerin Sabine Böhm in Monologen aus Pa­ti­en­t*in­nen­ak­ten auf der Treppe vor dem Haus 22 in der ehemaligen Stasi-Zentrale. Von dem verzweifelten Kampf „gegen die Schwerkraft der Medikamente“ ist da zu hören und auch von „Bomben“, mit denen missliebige Pa­ti­en­t*in­nen ruhiggestellt wurden.

Oben im Konferenzraum sieht man den einstigen KoKo-Chef Alexander Schalck-Golodkowski sich verteidigen. Das Textmaterial stammt von einer legendären RTL-Sendung aus den frühen 1990ern. Fragesteller ist jetzt allerdings die Band Taktikka, die mit quietschigem Keyboard und Schlagwerkstakkato auf die Einlassungen des einstigen Milliardenbeschaffers reagiert. Im Konferenzraum wird auch ein kulturwissenschaftliches Symposium über Depressionsforschung in der DDR reenacted. Das ist zwar der performativ schwächste Teil des Abends. Ein paar Diskursfetzen vermischen sich aber mit dem Dialog zwischen Band und Stasi-Entrepreneur. Sie dringen auch in das Foyer hinaus, wo fünf Tän­ze­r*in­nen vier Betten bespielen und dabei verschiedenste Disziplinierungs- und Deckelungsstadien von Pa­ti­en­t*in­nen in Bewegung umsetzen.

Am stärksten ist dieser performative Parcours aber, wenn von unten, vom Erdgeschoss aus, fröhlich-forsche Kinderlieder aus dem Repertoire der Pionier- und FDJ-Nachmittage der DDR nach oben schallen. „Fröhlich sein und singen, stolz das blaue Halstuch tragen“ kontrastiert da mit der Düsternis depressiver Zustände und der noch schwärzeren Grundierung durch die Ausbeutung dieser Pa­ti­en­t*in­nen in den Testreihen. „Panzerkreuzer Rotkäppchen“ hat nach der weithin beachteten Produktion „Treuhand Techno“ mal wieder ein schrilles Ostthema entdeckt und über den regional-zeithistorischen Bezug hinaus an die Gegenwart angeschlossen. Ging es in „Treuhand Techno“ um eine Parallelisierung des Ausverkaufs ostdeutscher Industrielandschaften mit dem sanften Sterben von in diesen Industriebauten angesiedelten Technoklubs aufgrund von Gentrifizierung und Pandemiebeschränkungen, so ist der aktuelle Aufhänger die Problematik der Herstellung mentaler „Fitness“. Im Gemäuer der einstigen Stasi-Zentrale fragt man sich dann schon, wie weit man bei sich selbst gehen mag, wie weit bei Angehörigen, die sich von der „Mental health“-Norm entfernt haben, und wie weit, wenn man selbst in Pharmaforschung oder Medizinbetrieb stecken würde. Antworten darauf liefert der Abend nicht. Aber er stellt Fragen, auch weit über diesen hoch belasteten Premierenort hinaus.

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