VW-Betriebsratschefin zu Menschenrechten: „Wir haben eine Verantwortung“

Daniela Cavallo ist die erste Frau an der Spitze des VW-Konzernbetriebsrats. Bei Volkswagen komme man von einer Krise zur anderen, sagt sie.

Die VW-Betriebsrätin Daniela Cavallo

Die VW-Betriebsrätin Daniela Cavallo Foto: Mark Mühlhaus/attenzione/Agentur Focus

taz: Frau Cavallo, vor rund einem Jahr haben Sie den Betriebsratsvorsitz bei Volkswagen von Ihrem Vorgänger Bernd Osterloh übernommen. Was war bisher Ihr härtester Kampf?

Daniela Cavallo: Das kann ich so gar nicht sagen. Wir kommen hier bei Volkswagen von einer Krise zur anderen, angefangen mit der Corona-Pandemie bis hin zum Ukraine-Krieg, der erst mal per se uns alle tief bewegt. Hinzu kommt als Dauerthema die Transformation Richtung Elektromobilität und Digitalisierung. Da geht es darum, wie wir dafür sorgen, die Beschäftigung auch weiter mit guten Produkten zu sichern.

Was für Auswirkungen hat der Ukraine-Krieg auf Volkswagen?

Ich möchte etwas Positives vorwegstellen: In der Belegschaft gibt es eine riesige Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Die Kolleginnen und Kollegen haben mittlerweile über 1,6 Millionen Euro an die UNO-Flüchtlingshilfe gespendet – so viel wie nie zuvor in der Unternehmensgeschichte. Das finde ich echt überwältigend. Es gibt viele weitere Initiativen. Wir haben zum Beispiel über die Logistik organisiert, dass LKW, die Teile herbringen, auf der Rückfahrt Hilfsgüter mitnehmen.

geboren 1975, ist seit Mai 2021 ­Vorsitzende des Gesamt- und Konzern­betriebsrats des Autobauers Volkswagen, der wohl mächtigsten Ar­beit­neh­me­r:in­nen­ver­tre­tung der Welt. Die Mutter von zwei Kindern ist die erste Frau in dieser Position. Nach dem Abitur 1994 begann die Deutsch-Italienerin ihre Ausbildung bei VW und engagierte sich in der Jugend- und Auszubildendenvertretung. 2002 wurde sie erstmalig in den Betriebsrat einer VW-Tochtergesellschaft gewählt. Mit der gelernten Bürokauffrau und studierten Betriebswirtin an der Spitze gewann die IG-Metall-Liste im März die Betriebsratswahlen im Wolfsburger Stammwerk mit 85,5 Prozent.

Und wie sind die Auswirkungen auf die Produktion?

Wir haben in der Westukraine eine Konzentration von Lieferanten, die Kabelstränge für den Volkswagen-Konzern herstellen. Die können erst mal nicht wie gewohnt voll produzieren. Deshalb hatten wir Produktionsausfälle und mussten wie in der Coronapandemie in Kurzarbeit gehen. Da mussten schnell Ideen in der zuständigen Task Force und im Einkauf entwickelt werden. Kabelbäume werden jetzt zum Beispiel verstärkt in Nordafrika hergestellt.

Man muss aber auch sagen, dass die Halbleiterkrise anhält, die wir ja schon vor dem Krieg in der Ukraine hatten. Die Kabelstrang-Problematik überdeckte das ein Stück weit. Entgegen der Annahme, dass wir jetzt durch sind mit dieser ganzen Geschichte, müssen wir doch wieder über Produktionsausfallzeiten sprechen.

Zu einem anderen Problemfall: Zum ersten Mal hat die Bundesregierung jetzt eine Bürgschaft für Chinageschäfte von VW abgelehnt, mit dem Hinweis auf den Umgang mit der muslimischen Bevölkerungsgruppe der Uiguren. Ist das gerechtfertigt in Ihren Augen?

Ich will mir nicht anmaßen zu bewerten, ob die Bundesregierung richtig reagiert hat. Aber fest steht: Mich erschüttern diese Berichte über Menschenrechtsverletzungen sehr. In Xinjiang geschieht Unrecht und die Weltgemeinschaft weiß das. Wir haben als Volkswagen eine Verantwortung. Der versuchen wir nachzukommen, indem wir uns seit Jahrzehnten als Betriebsrat dafür eingesetzt haben, dass VW Standards definiert – etwa die Sozialcharta als unsere Grundsatzerklärung zu Menschenrechten und Wirtschaft.

Aber auch die von uns vorangetriebenen Regelungen zu Leiharbeit, Lieferantenbeziehungen und Nachhaltigkeit in der Lieferkette. Menschenrechte sind da integraler Bestandteil. Dazu hat sich auch das Unternehmen bekannt. Und dazu stehen wir als Betriebsrat, weltweit. In der Vergangenheit war es so, dass wir regelmäßig an andere Standorte gefahren sind und uns mit den Arbeitnehmervertretungen sowie dem Management dort ausgetauscht haben. Das ist mit der Pandemie momentan allerdings schwierig.

War der Betriebsrat auch in China?

Ja klar. Wir haben einen Verbindungs- und Koordinationsausschuss gegründet mit den chinesischen Gewerkschaftsvertretungen, die in den verschiedenen Standorten aktiv sind. Vieles ist dort mit der allgegenwärtigen KP ja anders als in unserer Heimat Europa, wo es innerbetriebliche Mitbestimmung gibt im engen Schulterschluss mit gewerkschaftlicher Mitbestimmung und darüber hinaus die Parteienlandschaft. Die Standorte in China gehören auch nicht zu 100 Prozent Volkswagen, sondern sind immer Gemeinschaftsunternehmen mit chinesischen Partnern. Das macht es für uns natürlich komplizierter. Aber wir haben einen Austausch und damit eine Basis, auf der wir zusammenarbeiten.

Wie muss man sich das vorstellen?

Es hat zum Beispiel eine Delegation gegeben, bei der sich meine Kolleginnen und Kollegen ein Bild gemacht haben, wie die Situation vor Ort ist. Ich selbst war das erste Mal mit der IG Metall 2002 in China. Bisher haben wir keine Anhaltspunkte, dass in unseren Standorten irgendwas passiert, was nicht in Einklang zu bringen ist mit unserer Charta. Damit ich nicht missverstanden werde: Wir als Betriebsrat machen kein Menschenrechts-Audit, schon gar nicht über den Werkszaun hinaus. Aber wir wirken durchaus vor Ort, und das auch mit unseren global gültigen Werten, die für uns in China keine anderen sind.

Gilt das auch für das Werk in der Uiguren-Provinz Xinjiang?

Das ist genau das Werk, wo die von mir erwähnte Delegation hingefahren ist. Über den Verbindungs- und Koordinationsausschuss bestehen auch dorthin Kontakte. Aber seit Pandemiebeginn gibt es keinen Vor-Ort-Austausch mehr. Das ist eine Konsequenz des harten Lockdowns in China. Ich hoffe, dass sich das bald wieder ändern wird. Wir vertreten unsere Belegschaft weltweit so gut es geht. Das gilt für das kleine Werk in Urumqi in Xinjiang genauso wie für die große VW-Fabrik in Chattanooga in den USA, wo es keine Belegschaftsvertretung gibt, weil der Versuch der Gewerkschaft UAW, das Werk zu organisieren, mehrmals gescheitert ist. Auch durch Union Busting.

In die Schlagzeilen geraten sind jetzt auch wieder die Geschäfte von VW in Brasilien zur Zeit der Militärdiktatur. Was ist die Haltung des Betriebsrats dazu?

Die problematischen Aktivitäten von VW in Brasilien haben durch ein neues Ermittlungsverfahren wieder eine Medienöffentlichkeit gefunden. Aber wir beschäftigen uns schon lange damit und haben immer gefordert, dass alles restlos aufgeklärt werden muss. Das ist ein dunkles Kapitel, VW hat sich aus gutem Grund vor zwei Jahren zu Entschädigungszahlungen verpflichtet. Wir wollen, dass Menschenrechte geachtet werden, dass Belegschaften auch im Ausland das Recht gegeben wird, sich zu organisieren. Deswegen sind das Themen, die wir mit dem Vorstand sehr ernsthaft diskutieren.

Das haben wir im Übrigen schon immer gemacht. Auch als es darum ging, die Geschichte der Zwangsarbeit hier in Wolfsburg im Zweiten Weltkrieg aufzuklären. Da gab es lange, lange Jahre Widerstände vonseiten des Unternehmens. Aber der Betriebsrat hat sich durchgesetzt und maßgeblich dazu beigetragen, dass Volkswagen in den 1980er und 1990er Jahren zum Vorreiter und Vorbild im Umgang mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte wurde.

Die Autobranche ist im Umbruch. Das Ende des Verbrennerautos ist absehbar. Wie läuft der Transformationsprozess hin zu E-Mobilität aus der Sicht der Beschäftigten?

Wir wissen, dass durch Elektromobilität und Digitalisierung definitiv Arbeitsplätze entfallen werden. Da gibt es verständlicherweise Ängste. Weniger vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, denn es werden auch neue entstehen. Außerdem haben wir eine Beschäftigungssicherung bis 2029 vereinbart. Das ist für uns ein hohes Gut. Und es gibt ein hohes Vertrauen in die IG Metall und in den Betriebsrat, dass wir auch für die Zeit danach dafür sorgen, dass es keine betriebsbedingten Entlassungen geben wird. Doch viele besorgt die Frage, wie sich ihr Arbeitsplatz und ihr Arbeitsumfeld wandeln werden.

Was heißt das konkret?

Wir haben zum Beispiel in Salzgitter die Motorenproduktion. Wir haben es geschafft, eine Batteriezellfabrik dort hinzubekommen. Das war ein riesiger Kraftakt, weil noch vor einigen Jahren der Vorstand der Meinung war, das sei auf gar keinen Fall etwas, was wir in unser Kerngeschäft übernehmen werden, sondern zuliefern lassen. Der Betriebsrat und die IG Metall haben es aber geschafft, den Bau durchzusetzen. Unsere erste Forderung dazu war im Jahr 2010.

Mittlerweile ist die Konzernstrategie, in Europa sechs Batteriezellwerke aufzubauen. Das ist zwar eine Supernachricht. Aber für jemanden, der bislang an Motoren geschraubt hat, werden das Arbeitsumfeld und die Arbeitsbedingungen ganz anders, wenn er oder sie künftig Batteriezellen produziert. Ich habe mir die Pilotfertigung dort angeschaut. Das sind klinisch reine Räume, die Beschäftigten tragen teilweise Ganzkörperanzüge. Das ist schon etwas, wo die Belegschaft dann Ängste entwickelt. Und die müssen natürlich ernst genommen werden.

Vorstandschef Herbert Diess hat den Betriebsrat im vergangenen Herbst brüskiert, indem er verkündete, es gäbe 30.000 Arbeitsplätze zu viel bei VW, und dann wollte er nicht zur Betriebsversammlung kommen. Wie verstehen Sie sich mit ihm?

Er war ja dann auf der Versammlung. Wir haben einen Weg gefunden, wie wir weiterarbeiten können.

Aber das war doch schon ein Machtkampf.

Es ging mir nicht darum, einen Machtkampf auszutragen, sondern um Respekt und Wertschätzung gegenüber der Belegschaft. Es war es ein No-Go, dass er bei der Betriebsversammlung nicht dabei sein wollte. Wenn so eine Versammlung stattfindet, hat der CEO da zu sein. Das ist VW-Kultur. Wer das nicht versteht, dem erklären wir das unmissverständlich.

Diess hat auch gefordert, VW müsse so produktiv werden wie Tesla angeblich ist. Kann VW gegen Tesla bestehen?

Auf jeden Fall. Aber da werden schnell Äpfel mit Birnen verglichen. Das Unternehmen Volkswagen in seiner Komplexität mit den unterschiedlichen Marken und der Größenordnung, die dahintersteht – ich finde, da hinkt der Vergleich.

Nehmen Sie Tesla nicht ernst?

Das wäre hochriskant. Ich bin immer offen dafür, zu schauen, was wir daraus lernen können. Wir müssen im Wettbewerb bestehen. Und der Wettbewerb heißt in Zukunft, dass nun mal alles Richtung E-Mobilität und Digitalisierung geht. Deswegen ist Tesla natürlich ernst zu nehmen, erst recht, weil der Konzern jetzt eine Fertigung in Grünheide bei Berlin hat, die noch vergrößert werden kann. Wir sollten ganz genau darauf gucken, aber ganz genauso selbstbewusst unseren Volkswagen-Weg gehen, weil wir das nicht alles eins zu eins miteinander vergleichen können.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing propagiert Technologieoffenheit bei der Transformation der Autoindustrie, also keine Festlegung auf E-Mobilität. Wie sehen Sie das?

Um die CO2-Ziele zu erreichen, können wir nur den Weg der Elektromobilität gehen. Die Brennstoffzelle hat sich einfach nicht durchgesetzt, und die Wasserstoff-Technologie brauchen wir eher, um dafür zu sorgen, dass die Stahlindustrie CO2-neutral wird. Alternative Kraftstoffe sind zwar noch ein Thema bei Flugzeugen, LKW oder dem Altbestand der Verbrennerfahrzeuge, die noch viele Jahre auf der Straße fahren. Aber wir haben festgestellt und anerkannt, dass es richtig ist, jetzt mit aller Kraft auf die Elektromobilität zu setzen, weil wir ohne sie die CO2-Flottenziele nicht erreichen können.

Der frühere VW-Chef Winterkorn und andere Ex-VW-Manager sind wegen des Dieselskandals vor Gericht. Was muss aus Ihrer Sicht passieren, damit sich solche Skandale nicht wiederholen?

Ich hoffe natürlich, dass die Zeit solcher Skandale vorbei ist. Beim Dieselskandal wussten wir als Betriebsrat nichts von dem, was hinter den Kulissen in manchen Bereichen stattgefunden hat. Wir waren alle sehr negativ überrascht, als das losging. Aber seitdem ist viel passiert und viele Prozesse im Unternehmen sind verändert worden. Wir haben Hinweisgebersysteme ausgebaut, es wurde viel investiert, auch die Belegschaft und das Management aufzuklären, zu sensibilisieren.

Hat sich etwas in der Betriebsratsarbeit verändert?

Natürlich müssen wir uns als Betriebsrat und Arbeitnehmervertretungen in Gänze auch verändern, weil wir neue Herausforderungen zu bewältigen haben. Wir müssen uns zum Beispiel mit der Digitalisierung auseinandersetzen. Das Betriebsverfassungsgesetz ist an vielen Stellen total veraltet. Ein Beispiel: Es lässt digitale Arbeitsformen nicht zu. Während der Coronapandemie gab es die Möglichkeit zu digitalen oder hybriden Betriebsversammlungen. Das haben wir gemacht und Zehntausende waren dabei. Das muss es weiter geben können, ist jetzt aber nicht mehr möglich. Deswegen bin ich davon überzeugt, dass wir eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes brauchen.

Wie ist es als Frau in einer derartig männerdominierten Welt wie der Autobranche?

Je höher die Hierarchieebenen im Unternehmen, desto öfter sitze ich als einzige Frau in den Runden. Es ist noch viel zu tun, damit auch die Unternehmensseite weiblicher wird. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass jemand glaubt, nur weil hier eine Frau an der Betriebsratsspitze steht, könnte ich mich weniger durchsetzen. Allen ist schon bewusst, dass inhaltlich etwas dahinterstecken muss und eine breite Unterstützung vorhanden ist, wenn man in so einem großen Unternehmen an diese Position kommt.

Sehen Sie sich als Vorbild?

Dass ich Frau und Betriebsratsvorsitzende bin, sollte nichts Besonderes sein. Ich denke nicht jeden Tag darüber nach. Aber ich nehme schon wahr, dass das Beachtung findet. Wenn sich Frauen durch mein Beispiel motiviert fühlen, dann finde ich das super. Wir brauchen mehr Frauen auf allen Ebenen, egal ob es jetzt in Betriebsräten, auf der Gewerkschafts- oder auch auf der Unternehmensseite ist.

Sie wurden als Gastarbeiterkind 1975 in Wolfsburg geboren, Ihr Vater hat schon bei VW gearbeitet. Erst im vergangenen Jahr haben Sie sich entschieden, neben der italienischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. Warum haben Sie so lange gewartet?

Es war kein Zögern. Als Italienerin, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, hat mir lange nichts gefehlt. Meine Kinder haben sogar gleich beide Staatsbürgerschaften erhalten. Aber mich hat es zunehmend geärgert, dass ich bei Bundestagswahlen nicht mit abstimmen durfte. Das war nicht der alleinige, aber vielleicht der ausschlaggebende Grund, warum ich 2021 die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt habe. Mein Pass kam dann gerade rechtzeitig, um mitzuwählen. Und diesen Februar war ich sogar bei der Bundesversammlung dabei, das macht mich schon ein bisschen stolz. Wir in der EU sollten übrigens ganz generell nicht vergessen, welch ein Privileg wir mit unseren Pass-Nationalitäten haben.

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