Angst vor Blau

In Sachsen sind Kommunalwahlen. Und die AfD kämpft um einen bundesweit ersten Landratsposten. Wie realistisch sind ihre Chancen auf Erfolg?

Hey, hey, hey, hier steht der Goldene Reiter: Statue von August dem Starken in Dresden Foto: Tobias Kruse/Ostkreuz

Aus Dresden Michael Bartsch
und Rieke Wiemann

Als der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz jüngst in einer Biergaststätte gleich neben dem „Goldenen Reiter“ von August dem Starken in Dresden die Stärke seiner eigenen Partei beschwor, schwang auch ein Hauch von Wehmut mit. Fast so, als befürchte er, dass die bevorstehenden Kommunalwahlen den Abschied von der christdemokratischen Dominanz in Sachsen bedeuten könnten.

Merz war gekommen, um den amtierenden Dresdner Oberbürgermeister Dirk Hilbert von der FDP zu unterstützen – die CDU stellt gar keinen eigenen Kandidaten.

Draußen schrillten Trillerpfeifen, „Wahlbetrüger“-Plakate wurden von Anhängern der AfD hochgehalten. Doch Gefahr droht der CDU in den sächsischen Landkreisen nicht nur von der AfD. Auch Unabhängige könnten Terrain gewinnen. Und die SPD-Kandidatin Simone Lang aus dem Erzgebirge hat gute Aussichten, in die Fußstapfen der bislang einzigen SPD-Landrätin und amtierenden Sozialministerin Petra Köpping zu treten.

Die sächsische AfD wiederum unterrichtet derzeit die eigentlich ungeliebten „Systemmedien“ über ihre Absicht, die bundesweit ersten Landratsposten zu erobern. „Das würde uns unendlich helfen und uns Rückendeckung geben“, zitiert die Sächsische Zeitung den Landesvorsitzenden Jörg Urban. Fünf Landtagsabgeordnete schickt sie ins Rennen und wäre im Erfolgsfall auch bereit, dafür einen Preis zahlen. Nach einem Formfehler bei der Kandidatenaufstellung zur Landtagswahl 2019 hätte die Landtagsfraktion keine Nachrücker für die frei werdenden Sitze der Landräte.

Aber wie stehen ihre Erfolgschancen tatsächlich? Einen Sieg in ein oder zwei Landkreisen will Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der TU Dresden „nicht ausschließen“, eine Prognose aber will er nicht wagen. Er bestätigt jedoch einen starken Drang der AfD, endlich auch in die Exekutive vorzudringen. CDU-Generalsekretär Alexander Dierks hält einen Erfolg der AfD hingegen für ausgeschlossen und demonstriert damit altes Selbstbewusstsein.

Und dieser Optimismus könnte nicht nur seinem Wunschdenken entspringen. Warum sollte ausgerechnet die Partei „Alternative für Deutschland“ vom allgemeinen Trend der Parteienverdrossenheit verschont bleiben? Zudem erwächst der „Alternative“ von Rechtsaußen mit den „Freien Sachsen“ Konkurrenz. Eine radikale Kleinpartei, die ihren überproportionalen Einfluss schon beim Impfkrieg nachgewiesen hat. Und Politikwissenschaftler Vorländer verweist auf den bislang erfolgreichen Effekt „Alle gegen die AfD“ in den erwarteten zweiten Wahlgängen. Dann würde eine Allianz demokratischer Kräfte den aussichtsreichsten AfD-Konkurrenten unterstützen.

Alle Parteien dieser demokratischen Allianz warnen übereinstimmend davor, die AfD durch Beschwörung eines Wahlerfolges, durch „Hochschreiben“ eines Gespenstes aufzuwerten. „Nicht Angst vor der AfD zeigen, sondern positiv unsere Werte vertreten“, so beschreibt der SPD-Innenpolitiker und Dresdner OB-Kandidat Albrecht Pallas einen zunehmend erfolgreichen Politikstil. Ohnehin seien Bürger der gesellschaftlichen Polarisierung zunehmend überdrüssig.

Zum Phänomen AfD zählt allerdings auch, dass sie aus irrationalen Gründen gewählt wird, mögen auch noch so viele Fakten gegen sie sprechen. Längst ist beispielsweise die Legende widerlegt, sie sei eine Kümmererpartei und habe darin sowohl die Linke als auch die CDU abgelöst. Im großen Landkreis Bautzen, also im Kern der Oberlausitz, lässt sich das erleben, zum Beispiel zu Pfingsten auf dem Radeberger Bierstadtfest. Im Bierzelt und an der Eisschlange ist das Vertrauen in Kommunalpolitiker generell zwar erschreckend gering ausgeprägt. Als aber scherzhaft die Rede auf den künftig blauen AfD-Landkreis kommt, reagieren die Ausflügler gereizt. „Wer sagt denn so was?“, heißt es, und „Die sieht man doch sonst nie“.

In Großdubrau, nördlich von Bautzen, berichtet Bürgermeister Lutz Mörbe, dass er nach der Bundestagswahl 2017 eineinhalb Jahre habe betteln müssen, ehe der AfD-Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse Zeit für eine Bürgermeisterrunde seines Wahlkreises gefunden habe. In Bernsdorf aber, unweit von Hoy­erswerda, trifft sich der parteilose Mitte-links-Landratskandidat Alex Theile mit Bürgermeistern – und auch etwa 20 Bürger sind der Einladung gefolgt. Es geht um die klassischen Regionalthemen: die Abfederung des Kohleausstiegs, Förderpolitik generell, die Wiederbelebung von Bahnstrecken wie etwa der Seenlandbahn. Und um die Umkehr des Abwanderungstrends.

Von der AfD ist hier nicht einmal ansatzweise die Rede, denn sie hat regional und lokal keine Ideen beizusteuern. Doch Alex Theile, Jurist, Soziologe, Unternehmensberater, Staatsanwalt, neuerdings Richter und Vorsitzender der vierköpfigen Links-Fraktion im Stadtrat von Kamenz sagt auch: „Der Ton der AfD ist schärfer geworden. Aber es geht ihr nicht um die Leute, sondern um Macht und Einfluss.“

Theile ist von Linken, SPD und Bündnisgrünen einstimmig als gemeinsamer Landratskandidat nominiert worden. Doch diese Parteien sind im erzkonservativen Ostsachsen in der politischen Diaspora. Die politische Konstellation dort beschreibt ein Gast der Bernsdorfer Veranstaltung so: ein Drittel AfD, ein Drittel CDU, ein Drittel Sonstige.

Alex Theile aber sieht den blassen Frank Peschel (AfD) und Udo Witschas von der CDU nur als Scheinkonkurrenten. Der bisherige Vizelandrat wird zu den Rechtsauslegern der Union gezählt, traf sich während der flüchtlingsfeindlichen Proteste in Bautzen mit einem NPD-Funktionär, rebellierte gegen die Impfpflicht für medizinisches Personal und damit gegen die Landesregierung. Seinetwegen hat die fachlich anerkannte zweite Beigeordnete des Landkreises, Birgit Weber, angekündigt, in keinem Fall wieder zur Verfügung zu stehen.

Während im Kreis Bautzen also Erzkonservativ gegen Ultrakonservativ kandidiert, sind die Fronten in Mittelsachsen eindeutiger gezogen. Ein Kreis, in dem vor zwei Jahrzehnten schon einmal „national befreite Zonen“ ausgerufen wurden, die rechtsterroristische Vereinigung „Sturm 34“ agierte und der inzwischen speziell im Raum Leisnig zu einem Zentrum rechter völkischer Landnahme geworden ist.

Wie könnte man die Macht eines Landrats im Notfall begrenzen?

Ausgerechnet hier kandidiert jemand, der es geschafft hat, eine mittelsächsische Kleinstadt nahe Chemnitz komplett AfD-frei zu halten: Dirk Neubauer, seit acht Jahren parteiloser Bürgermeister von Augustusburg. Hier hat die AfD nicht einen Sitz im Stadtrat. Neubauer wird von Grünen, Linken und SPD unterstützt und tritt gegen Rolf Weigand von der AfD sowie den kaum bekannten CDU-Oberbürgermeister von Döbeln, Sven Liebhauser, an.

Neubauer, 51 Jahre alt, angegrauter Dreitagebart, hochgekrempeltes weißes Hemd, stammt aus Halle und hat, bevor er 2013 Bürgermeister in Augustusburg wurde, Unternehmen bei der Digitalisierung beraten, eine Kaffeerösterei betrieben und als Journalist für die Mitteldeutsche Zeitung gearbeitet. 2020 wurde er mit 70 Prozent der Stimmen für weitere sieben Jahre wiedergewählt. Die Landkreise in Sachsen, kritisiert der Bürgermeister, seien wie Königreiche. „Ganz oben sitzen irgendwelche geborenen Bestimmer, die Politik machen nach dem Motto: ‚Wir wissen, was für euch gut ist, wir kümmern uns um alles‘.“ Dieses Kümmern habe den Bür­ge­r:in­nen ihre Selbstverantwortung entzogen – und dazu geführt, dass sie den Regierenden die Schuld gaben, wenn etwas nicht gut lief. Dadurch habe die AfD, die sich von dem Frust der Bür­ge­r:in­nen ernähre, überhaupt erst so stark in Sachsen werden können. Viele Bür­ge­r:in­nen – darunter auch einige AfD-Wähler:innen – kämen einzig deswegen zu seinen Veranstaltungen, weil er parteilos sei, sagt Neubauer. 2017 ist er in die SPD ein- und 2021 wieder ausgetreten. Vertrauen der Bürger könne eher durch Überparteilichkeit wiederhergestellt werden, ist er überzeugt. Dass Neubauers Konzept der Bürgerbeteiligung funktioniert, hat er in seiner Stadt gezeigt. Vor vier Jahren hat Neubauer die Webseite „Mein Augustusburg“ geschaffen, über die Bür­ge­r:in­nen Ideen für die Gestaltung ihrer Stadt einreichen können. Zum Beispiel die Errichtung einer Wetterstation, eines Irrgartens, eines Klaviermuseums. Die Projekte mit den meisten Stimmen werden umgesetzt, die Stadt fördert sie in diesem Jahr mit 20.000 Euro. Diesen Stil partizipativer Angebote will Neubauer auch auf Kreisebene fortsetzen.

Gegen Dirk Neubauer tritt Rolf Weigand, 37, von der AfD an. Er ist promovierter Inge­nieur für Keramik, Glas- und Baustofftechnik und stellvertretender Vorsitzender der AfD-Fraktion im sächsischen Landtag. Bei der Landtagswahl 2019 holte er in Freiberg ein Direktmandat. Auf dem Freiberger Wochenmarkt verteilt Weigand weiße Papiertüten, die mit je einem Käse-Schinken-Brötchen, einem Kugelschreiber und einem Wahlflyer gefüllt sind. Alle Bürger:innen, die an Weigands Wahlstand stehen bleiben, wirken extrem frustriert und von der Politik enttäuscht. Unter ihnen sind Nichtwähler, die sich nur noch „beschissen und belogen“ fühlen, Rentner mit einer Hungerrente, die überdies noch durch die Energiepreise belastet werden. Weigand hört allen zu, nickt. Sagt, dass er ihren Frust verstehe und sich für Verbesserungen starkmache. Er ist freundlich, spricht ruhig, wird nicht ausfallend. Seine Agenda erscheint AfD-typisch. Bremsen bei Photovoltaik und Windkraft, keine Impfpflicht, nur Sachleistungen für Asylbewerber, Relativierung des Klimawandels.

Nun plötzlich fragt man sich in Sachsen, wie man im Notfall die Macht eines Landrates begrenzen, ihn zumindest an die Leine legen könnte. Im Kreistag gäbe es Möglichkeiten, denn dieser könnte das Budgetrecht des Landrates auf 500 Euro herabsetzen. Aber würde auch die eingespielte Verwaltung ihren neuen Chef durch stille Opposition paralysieren? SPD-Innenpolitiker Albrecht Pallas ist überzeugt, dass ein AfD-Einzelkämpfer im Landratsamt seine Macht nicht voll entfalten könnte.

Spätestens die Stichwahlen am 3. Juli werden zeigen, ob man sich erstmals mit einem solchen politischen Experiment wird befassen müssen.