Für Kaufhaus und Vaterland

Wiedergelesen: Margarete Böhmes Roman „W.A.G.M.U.S.“ ist ein großer Wurf – auch 110 Jahre nach der Erstveröffentlichung. Dank des feministischen Husumer Kollektivs „5 plus 1“ ist er sogar lieferbar

Hungrige Kirche des Konsums? Das Berliner Kaufhaus Wertheim im Jahr 1900 Foto: Wikimedia Commons

Von Benno Schirrmeister

Berühmte Werke können diejenigen verdecken, die das Wiederlesen lohnen würden. Ganz deutlich ist das bei Margarete Böhme der Fall: Diese 1867 in Husum geborene Schriftstellerin so richtig madig machen kann einem ausgerechnet ihr bekanntester Roman, „Tagebuch einer Verlorenen“ von 1905. Vielleicht hat er ja dafür gesorgt, dass selbst im Online-Archiv der sozialistischen Literatur Böhmes Roman über die Braunschweiger Räterepublik, „Die Grüne Schlange“ (1920), nicht existiert.

Ganz sicher kann er dazu führen, dass man ihr Telefonistinnen-Epos „Christine Immersen“ (1913) oder gar ihren sensationellen Kaufhausroman mit dem eigentümlichen Titel W.A.G.M.U.S. (1911) nicht zur Hand nimmt. Gerade letzterer aber ist nun wirklich ein großer Wurf, der auch 110 Jahre nach der Erstveröffentlichung die Neulektüre lohnt.

Böhmes Smashhit, das „Tagebuch einer Verlorenen“, erweist sich dagegen als schwüler Edelkitsch von der Bauart einer frühen Thomas-Mann-Novelle, wenn auch sprachlich nicht ganz so pompös. Es geht um ein Mädchen, das jung verführt – oder war es nicht doch wieder ihre sündhafte Veranlagung, die Stimme des lasterhaften Bluts? – in die Prostitution gerät; und es geht schlecht aus.

Das Buch tut dabei so, als wäre es ziemlich sehr dokumentarisch. Das hilft dabei, sich hinter einem aufklärerischen Anliegen zu verstecken: Nichts liege ihr ferner, schreibt die Autorin im Vorwort, als „mit der Herausgabe dieser Tagebuchblätter die pikante Literatur um ein Buch zu bereichern“. Und nur in Funktion des guten didaktischen Zwecks verspricht sie dann „grelle Schlaglichter in die Welt der bürgerlichen Toten“ zu werfen, der Huren und Kokotten. Das ist geniales Marketing, denn natürlich triggert das alle erotischen Erwartungen an, schützt zugleich vor Skandalisierung; lüsternen Le­se­r*in­nen erlaubt es, sich gleichsam im Dienst der Sittlichkeit von der Apotheke eines „kleinen properen Städtchens von 2.000 Einwohnern in der Marsch“ aus durch mondäne Salons, Hotelzimmer und -betten in Hamburg, Hannover und Berlin zu kämpfen, bis es schließlich ins offene Grab hineinregnet.

Bis 20 Jahre später „Im Westen nichts Neues“ erschien, war das „Tagebuch …“ der größte deutsche Bestseller überhaupt: 1,3 Millionen verkaufte Exemplare, drei Verfilmungen im Laufe von 24 Jahren. Nur mangelhafte Professionalität kann erklären, dass nicht alle, die sich literatur-, kultur- oder gesellschaftsgeschichtlich mit Deutschland von 1900 bis zu Beginn der Naziherrschaft beschäftigen, dieses Buch gelesen haben – so erkennbar stellt es einen gemeinsame diskursiven Bezugspunkt jener Epoche dar.

Umso besser dass die feministische Theatertruppe „5 plus 1“ aus Husum vergangenes Jahr für eine Neuauflage gesorgt hat. Viel besser aber ist, dass sie schon vorher auch W.A.G.M.U.S. wieder in den Handel gebracht hat, denn dieser Roman hat nicht nur dokumentarischen Wert. Er erzählt vom Wachstum, vom Boom der Warenhäuser. Und vor allem erzählt er deren Transformation. So war das Kaufhaus bei Émile Zola ein persönliches und autokratisch geführtes Unternehmen geblieben. Hier aber wird der Betrieb, über den die Familie Müllenmeister ihre Assimilation und ihren Aufstieg organisiert hat – der ursprünglich jüdische Name Manasse ist das erste, was sie auf dem Weg geopfert hat – überführt in eine abstrakte Gesellschaft.

Während Zola von der Kathedrale des Konsums handelt, wird hier über den Bau seines Tempels hinaus eine Kirche gestiftet, die dem individuellen Zugriff ihres Gründers Josua entgleitet. Wobei der, neoromantisch wie Kaiser Wilhelms II. geflügelter Helm, weiter davon träumt, seine demokratischen Zugeständnisse zwecks Kapitalakquise per Aktienmehrheit wieder abzuwickeln um ein „absolutistisches Regiment an der Spitze“ seines „Staats im Staate“ zu installieren.

Ob das seinem Sohn Friedrich glückt, lässt Böhme offen. Zuvor aber hat sie die Zumutungen der Moderne spürbar gemacht als vielstimmiges Zusammenspiel der Kräfte, das seine eigene Schönheit entwickelt – und in dem nicht länger der Patriarch allein über die Identität bestimmen kann: „Warenhaus-Aktien-Gesellschaft Müllenmeister & Söhne. Entsetzliche Zeitvergeudung, solch ein Lunge und Zunge strapazierender Name“, lässt Böhme den wichtigsten Geldgeber Müllenmeisters Pläne quittieren, jenseits des bestehenden Kaufhaus am Berliner Alexanderplatz, das mehr Nachfrage erzeugt, als es bewältigen kann, eines in kollektiver Trägerschaft zu konzipieren. „Sagen wir doch einfach: W.A.G.M.U.S. Wagmus. Famos!“ Ein Kurzwort also, Zeitersparnis, die Platz schafft fürs Visionäre. Am Akronym nämlich entzündet sich eben die Vorstellung eines veritablen Einkaufs-Universums: „Ganz Berlin wandelt auf Wagmus-Teppichen, knabbert Wagmus-Biskuits, kleidet sich in Wagmus-Tuche, schläft in Wagmus-Betten, hört Wagmus-Konzerte, bespritzt sich mit Wagmus-Odeurs.“

Entstanden ist dieses Buch in derselben Zeit, in der Peter Behrens mit dem Corporate Design ein Mittel ersonnen hat, den mystischen Schleier des materiellen Produktionsprozesses zur undurchdringlichen Wand zu verdichten. Die Einheit der Erscheinungsform erweist sich in Böhmes Zugriff als Machtbasis von Werbung und Propaganda. So entfaltet die Schaufensterfront des vollendeten Megastores schließlich als Bilderbogen von der Wiege bis zur Bahre diesen totalisierenden, religiösen Anspruch des Warenhauses, alle Lebensbereiche abzudecken. Im Gegenzug wird sich Wagmus ­alles Leben dienstbar machen.

Klar, das Kaufhaus hatte schon bei Zola die kleinen Handwerker aus dem Stadtzentrum in die Verelendung verdrängt, die Dynamik des City-Umbaus hält auch 50 Jahre später noch an, und in deren rührseliger Schilderung verweilt Böhme manchmal zu lang. Aber sie erfasst eben auch, dass der Hunger des Molochs gewachsen ist: Familie, Liebe, Zukunsthoffnungen, politisches Engagement in Arbeiterbewegung und Frauenemanzipation, Freude – alles frisst er auf. Sämtliche Wege, die Menschen zum Glück erproben, lässt Böhme in Leere münden. Erfüllung erlangt nur, wer in seinem Dienst am Konsum aufgeht, wenigstens bis die Altersgrenze erreicht und die Arbeitskraft ohne Gnade aussortiert ist (oder mit Gnade geheiratet). Auf allen Ebenen des Imperiums aber scheitern Ehen, werden Verlobungen gelöst, hoffnungsvolle Karrieren per spontanem Suizid beendet.

Böhmes eigenes Verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis ist ein organisiertes gewesen: Zwar hatte sie schon ab 1925 nicht mehr publiziert, vielleicht auch, weil sie es, gut verheiratet, zum Broterwerb nicht mehr nötig hatte. Aber 40 Titel mit doch eigentümlichen Sujets, vielfach übersetzt. Das hätte einen gewissen Nachhall haben müssen, zumal ja noch in der Weimarer Republik auch Verfilmungen entstehen.

Aber die von Berlin wieder ins heimatnahe Hamburg umgesiedelte Witwe wurde mit Stillschweigen übergangen. Neuauflagen entfielen, aus den Büchereien wurde sie ausgesondert. Als sie 1939 in Hamburg-­Othmarschen starb, war ihr Name aus den Nachschlagewerken bereits verschwunden. Nachrufe sind keine bekannt geworden.

Neuflagen von Margarete Böhmes Romanen erscheinen seit 2012 im Husum-Verlag