Neun-Euro-Ticket an Pfingsten: Stresstest bestanden

Meldungen von überfüllten Zügen und gesperrten Bahnsteigen rücken das Neun-Euro-Ticket in ein schlechtes Licht. Nur: So schlimm war es gar nicht.

Auf einer Treppe stehen viele Menschen mit dem Rücken zur Kamera, daneben ist eine Treppe mit ebenfalls vielen Menschen zu sehen

Trotz vollem Berliner Hauptbahnhof: Das Neun-Euro-Ticket hat nicht zu einem Systemkollaps geführt Foto: Christoph Soeder/dpa

Mit fast so etwas wie Angstlust haben Fans und notorische Kri­ti­ke­r:in­nen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) das Pfingstwochenende erwartet. Das bundesweit geltende 9-Euro-Ticket für den Nahverkehr werde zu einem immensen Chaos führen, Bahnen und Busse dem massiven Andrang der Reisenden nicht standhalten, hieß es immer wieder.

Meldungen von überfüllten Zügen, gesperrten Bahnsteigen oder stehengelassenen Fahrgästen scheinen den Un­ken­ru­fe­r:in­nen recht zu geben. Unzählige Jour­na­lis­t:in­nen waren zwischen Freitag und Montag unterwegs, um über das erwartete Chaos zu berichten. Aber, Hand aufs Herz: So schlimm, wie es sich mitunter anhört, war’s gar nicht. Jedenfalls auch nicht so viel schlimmer als immer an Pfingsten.

Das 9-Euro-Ticket hat im Großen und Ganzen den ersten großen Stresstest bestanden. „Sehr volle Züge, aber kein Chaos“, lautet denn auch die Bilanz des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Viele, die am Wochenende im Regionalzug oder Bus durch die Republik reisten, werden das bestätigen – es sei denn, sie waren, wie es im Bahnjargon heißt, Teil einer „regionalen Auslastungsspitze“.

Eines darf beim Blick auf das vergangene Wochenende nicht vergessen werden: Rund um Pfingsten herrschen in den Zügen der Deutschen Bahn traditionell Überfüllung, Gedränge und schlechte Laune. Denn zu wenig Züge und zu wenig Personal zeigen sich immer dann, wenn sehr viel mehr Menschen Zeit und einen Anlass für Reisen haben als im Alltag. Die Pfingstüberfüllung findet seit einer halben Ewigkeit statt, doch bislang haben Journalist:innen, Po­li­ti­ke­r:in­nen und Ma­na­ge­r:in­nen der Deutschen Bahn das achselzuckend hingenommen und Reisenden geraten, zu einem anderen Zeitpunkt zu fahren. Selbst schuld, wenn es stressig wird, lautete ihre Botschaft.

Doch an diesem Pfingsten war es anders. Die Republik hat auf das Geschehen in Bahnen und Bussen geschaut wie sonst auf die Staumeldungen. Und allein das ist ein grandioser Erfolg. Nicht die vom ADAC gezählten Staukilometer auf den Autobahnen beherrschen Meldungen und Gespräche, sondern die Ereignisse auf den Bahnhöfen. 400 überfüllte Züge hat der Betriebsrat der Bahntochter DB Regio gezählt.

Das 9-Euro-Ticket gilt nicht in Fernzügen, deshalb spielt sich das Geschehen rund um die ÖPNV-Flatrate in den Zügen der DB Regio ab. Für diejenigen, die in einer dieser 400 Bahnen unterwegs waren, ist es leider schlecht gelaufen – aber das sind im Verhältnis zu den vielen anderen Reisenden wenig. „Mit 86.000 Zugfahrten ist bei DB Regio über das lange Wochenende alles gerollt, was rollen kann“, sagt DB Regio-Chef Jörg Sandvoß.

Menschen nutzen den ÖPNV, wenn er günstig ist

Der ein oder die andere, die wegen Überfüllung am Bahnsteig dem Zug hinterherschauen mussten, ärgern sich völlig zu Recht. Das darf nicht passieren. Jede:r, die oder der auf der Strecke bleibt, ist ei­ne:r zu viel. Dass zeitweise Bahnsteige an großen Bahnhöfen wie Berlin, Köln oder Hamburg wegen zu hohen Andrangs gesperrt werden mussten, ist schlecht.

Aber: Das sind einzelne Fälle, die unter anderem mit mehr und längeren Zügen und mit einem dichteren Takt in den Griff zu bekommen wären. Auch wenn es für die Leidtragenden nicht schön ist – diese Nachteile wiegen nicht so schwer wie die Vorteile für Millionen von Reisenden. Das 9-Euro-Ticket hat nicht zu einem Systemkollaps geführt.

Auch wenn die Kapazitäten viel zu knapp sind und dringend ausgebaut werden müssen, der Status quo spricht bei allen Defiziten nicht gegen das gigantische Feldexperiment ÖPNV-Flatrate. Und gleichzeitig steht in der öffentlichen Debatte völlig außer Frage, dass der Nahverkehr drastisch ausgebaut werden muss. Die Be­für­wor­te­r:in­nen eines schnellen und massiven ÖPNV-Ausbaus haben eine Art kulturelle Hegemonie errungen. Denn wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Nutzung von Bussen und Bahnen und der Preis dafür in einem direkten Zusammenhang stehen, jetzt ist er mit dem 9-Euro-Ticket erbracht. Menschen nutzen den ÖPNV, wenn er günstig ist.

Reisenden an Pfingsten war klar, dass es eng werden würde. Verkehrsunternehmen ebenso. „Wir haben für das Pfingstwochenende mit sehr vollen Fahrzeugen und Bahnsteigen gerechnet und das hat sich bestätigt“, sagt VDV-Präsident Ingo Wortmann. „Die Verkehrsunternehmen und die Fahrgäste waren aber auf den zu erwartenden Ansturm sehr gut vorbereitet.“ Der Vizevorsitzende des Gesamtbetriebsrats DB Regio, Ralf Damde, lobt die Rücksichtnahme und Geduld der meisten Fahrgäste.

Bei günstigen Preisen steigt die Laune

Das ist ein interessantes Phänomen: Günstige Preise führen bei Fahrgästen zu Gelassenheit und Freundlichkeit. Wer in einem der engen, unbequemen Züge des Deutsche-Bahn-Konkurrenten Flixtrain unterwegs ist, in dem das ansonsten funktionierende WLAN nicht geht und der Service zu wünschen übrig lässt, macht eine ähnliche Erfahrung: So etwas kann der guten Laune von Fahrgästen überhaupt nichts anhaben, wenn sie für 20 Euro von Berlin nach Köln kommen.

Bei der Deutschen Bahn kostet selbst der – kaum verfügbare – Supersparpreis fast dreimal so viel, das reguläre Ticket sogar 117 Euro. Bei der Deutschen Bahn, wo selten in einem Zug alles so funktioniert wie vorgesehen, ist die Stimmung der Reisenden angesichts des Preises schon vor Beginn der Reise im Keller. Auch im Fernverkehr muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass die Preise sinken.

Im Nahverkehr wenigstens ist mit dem 9-Euro-Ticket die Preiswelt in den kommenden drei Monaten in Ordnung. Das macht vielen Fahrgästen gute Laune, auch wenn sie im Zug stehen müssen. Die ÖPNV-Flatrate ermöglicht ihnen eine neue, nicht gekannte Flexibilität. Fahrgäste können, ohne Tarifgrenzen zu checken, einsteigen, wo sie wollen, mal aus purer Neugier eine Haltestelle weiterfahren als sonst und spontan doch den früheren oder späteren Zug nehmen. So sind echte Entdeckungsfahrten möglich, unkompliziertes Reisen mit mehreren Personen ebenso.

Viele werden in den kommenden Monaten eine völlig neue Form der Mobilität kennenlernen. Flexibilität ist der große Wettbewerbsvorteil des Autos – mit Projekten wie dem 9-Euro-Ticket wird dieser Vorteil kleiner. Aber auf lange Sicht kann das nur klappen, wenn der Bund und die Länder mehr Geld in den Ausbau des ÖPNV stecken – auch und gerade auf dem Land.

„Gemeinsam mit den Ländern werden wir die 3 Monate des 9-Euro-Tickets genau evaluieren, um daraus Schlüsse hinsichtlich Preis und Angebot im ÖPNV zu ziehen“, sagt Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). Bislang verweigert der Minister den Ländern dringend erforderliche Mittel für den Ausbau. Doch das könnte sich ändern, wenn der öffentliche Druck größer wird, weil viele Millionen Menschen in den kommenden Monaten ein Faible für den ÖPNV entwickeln.

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