Mögliche Kriegsziele in der Ukraine: Deutschland, was willst du?

Was sollte die deutsche Politik im Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine erreichen? Eine Debatte ist überfällig. Vier mögliche Szenarien.

Soldat mit Kampfhelm und Nachtsichtgerät

Die Debatte um Deutschlands Ziele im Krieg tappt im Dunkeln Foto: Christoph Hardt/imago

In der deutschen Öffentlichkeit wird heftig um den richtigen Umgang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine gerungen. Nicht nur die vieldiskutierten öffentlichen Briefe konzentrieren sich dabei auf die Frage: Soll Deutschland schwere Waffen liefern – ja oder nein?

Doch eigentlich sollte man sich zuerst über die Ziele verständigen, bevor die richtigen Mittel gewählt werden können. Ist es ein deutsches Ziel, dass die Ukraine den Krieg gewinnt? Die Beantwortung dieser Frage fällt auch der Bundesregierung seltsam schwer. Es ist an der Zeit, eine Debatte über die Ziele der deutschen Politik zu führen. Wir beschreiben mögliche Ergebnisse des russischen Überfalls auf die Ukraine und ordnen sie aus deutscher Sicht ein. Auf dieser Grundlage skizzieren wir, was das für die deutsche Außenpolitik bedeuten könnte.

1. Sieg der russischen Armee mit moskautreuer Regierung in Kiew

Mit dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Norden der Ukraine und dem Gebiet um Kiew scheint dieser Ausgang zunächst wenig wahrscheinlich. Da aber niemand weiß, welche Wendungen der Krieg noch nimmt – etwa nach einem militärischen Erfolg der Russen im Donbass –, kann er auch nicht ausgeschlossen werden.

Die Folgen wären weitreichend: Ein solches Ergebnis würde das Ende der Grundprinzipien jener Weltordnung bedeuten, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Das gewalttätige Verschieben von Grenzen, das bereits mit der Krim-Annektion 2014 begann, wäre endgültig nicht mehr nur eine hypothetische Möglichkeit. Die Gefahr wäre groß, dass ein russischer Erfolg Nachahmer auf den Plan ruft, die ebenfalls mit militärischer Gewalt ihre politischen Ziele durchsetzen wollen. Und da geht es nicht nur um China und Taiwan.

Gleichzeitig würde dieser Ausgang das westliche Bündnis in Selbstzweifel stürzen. Niederlagen führen oft zu Auflösungstendenzen. Es wäre auch eine Niederlage von US-Präsident Biden, die bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren den Erfolg eines Kandidaten mit isolationistischer „America first“-Orientierung noch wahrscheinlicher macht. Auf globaler Ebene würde das zu einer Schwächung der liberalen Demokratien führen, im Osten Europas außerdem zu einer dauerhaften Bedrohung von EU- und Nato-Staaten durch einen aggressiven und imperial auftretenden Nachbarn. Ein militärisch siegreiches Russland würde vermutlich nicht mit den Grenzverschiebungen aufhören; vielmehr könnte es Teile Moldaus und Georgiens annektieren. Auch im Baltikum würde die Angst vor einer russischen Invasion noch weiter wachsen.

Aus deutscher Sicht wäre dieser Kriegsausgang fatal. Der mögliche Rückzug der USA würde den Aufbau einer europäischen Verteidigungsfähigkeit zwingend notwendig machen, was Deutschland stark fordern würde. Nur was wäre, wenn der autoritäre Virus auch noch Frankreich erfassen sollte? Mit welchem Partner sollte Deutschland das dann umsetzen? Möglich, dass die EU in diesem Umfeld dramatisch geschwächt würde, sogar zerbrechen könnte. Deshalb muss aus deutscher Perspektive alles getan werden – mit Ausnahme eines westlichen Kriegseintritts, der die Lage weiter eskalieren würde –, um einen solchen Sieg Putins zu verhindern. Dazu muss das Militär der Ukraine gestärkt werden, auch mit schweren Waffen aus Deutschland.

2. Friedensvertrag ohne Unabhängigkeit der Ukraine

Wenn die ukrainische Regierung gezwungen ist, einen Vertrag zur Beendigung des Krieges zu unterzeichnen, der die eigene Unabhängigkeit in Frage stellt, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Krieg in einen dauerhaften militärischen Konflikt niedrigerer Intensität überführt wird. Das Sterben würde auf beiden Seiten weitergehen. Die Ukraine wäre durch den Verlust des hochindustrialisierten Donbass wirtschaftlich stark geschwächt.

Aber auch Russland hätte zum einen mit hohen Besatzungskosten in den eroberten Gebieten zu kämpfen, zum anderen würden die westlichen Sanktionen wohl bestehen bleiben, was Russland wirtschaftlich in die Arme Chinas treiben würde. In der Folge könnten sich die USA auch unter einem demokratischen Präsidenten von Europa abwenden, um sich stärker auf die Auseinandersetzung mit China zu konzentrieren.

Für Deutschland würde dies bedeuten, die Ukraine dauerhaft zu unterstützen, ohne dass diese aber eine echte Entwicklungsperspektive hätte. Mit Kämpfen, die immer wieder aufflackern, könnte das Land weder ein ernsthafter EU-Kandidat werden noch sich wirtschaftlich und politisch nachhaltig entwickeln. Gleichzeitig müsste auch bei diesem Ausgang die europäische Verteidigungsfähigkeit mit Nachdruck ausgebaut werden. All dies bliebe aber weltpolitisch das Kleingedruckte angesichts der Verschärfung des großen Machtkonflikts zwischen der demokratischen Welt, angeführt von den USA, und einer autokratischen Sphäre, in der Russland zum abhängigen Satelliten Chinas wird.

3. Friedensvertrag mit Selbst­bestimmungsrecht der Ukraine

Ein solches Szenario klingt wie ein klassischer Kompromiss, birgt aber viele Risiken – unabhängig davon, wie wahrscheinlich seine Umsetzung wäre, da Russland versucht, in den eroberten Gebieten eigene staatliche Strukturen zu errichten. Die Ukraine bliebe bei diesem Ausgang selbstbestimmt, müsste aber einer gewissen föderalen Autonomie der Ostukraine zustimmen.

Auch in diesem Szenario bräuchte die Ukraine große Aufbauhilfen der EU und Deutschlands – sie hätte aber, vorausgesetzt die Situation in der Ostukraine stabilisierte sich und die Kämpfe würden enden, eine echte EU-Beitritts­option. Und damit eine Chance auf eine eigene Entwicklung. Russland wird einer solchen Regelung nur zustimmen, wenn es keine Chance auf einen militärischen Sieg mehr hat oder dieser mit unbewältigbaren Kosten verbunden ist.

In dieser Konstellation träte etwas ein, was der Kreml durch den Krieg verhindern wollte: die Bedrohung für Putins Regime durch eine demokratische und sich wirtschaftlich positiv entwickelnde Ukraine. Eine solche Entwicklung würde das Versagen im eigenen Land brutal offenlegen. Der Grundkonflikt bliebe erhalten und diese Option nur eine Verschnaufpause.

Dennoch ist ein solcher Ausgang besser als die beiden erstgenannten Möglichkeiten. Wenn die deutsche Außenpolitik dazu einen Beitrag leisten will, muss sie neben der Unterstützung der Ukraine die Kommunikation mit beiden Kriegsparteien offenhalten – mit der ersten und der zweiten Reihe. Es bedarf guter Informationen, wann ein möglicher Zeitpunkt für einen Burgfrieden gekommen ist, um ihn dann befördern zu können. Mittelfristig hieße das für die deutsche und europäische Außenpolitik, dass das Russlandproblem wohl erhalten bliebe. Dass ein solcher Ausgang Putins Macht im eigenen Land entscheidend schwächt, ist nicht ausgemacht. Die russische Armee könnte ihre Fehler analysieren und sich für einen neuen Anlauf rüsten. Und dafür müsste sich wiederum Europa rüsten.

4. Niederlage Putins

Ist es also doch am besten, auf einen eindeutigen Sieg der Ukraine zu setzen? So wünschenswert das erscheinen mag, birgt auch dieser Ausgang Gefahren. Russland möchte eine Niederlage um jeden Preis verhindern und könnte zu Massenvernichtungswaffen wie taktischen Nuklearwaffen greifen. Der Schaden und das Leid wären unermesslich. Selbst wenn diese Waffe nicht in der Nähe der Westgrenze der Ukraine eingesetzt werden würde, blieben die Kosten für Europa enorm. Aber auch wenn der Einsatz taktischer Nuklearwaffen mit glaubhaften Drohungen der Nato verhindert werden könnte, hätte ein solcher Ausgang zur Folge, dass mit Russland ein schwankender Paria mit Atomwaffen am Rande Europas entsteht.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Auf die innere Entwicklung des Landes kann der Westen kaum Einfluss nehmen, jedenfalls nicht mit Sanktionen. Innere Unruhen, anhaltende politische Instabilität und eine weiter niedergehende Wirtschaft wären bei diesem Ausgang die Folgen. Im Ergebnis entstünde eine alte, rostige Tankstelle, auf der sich das Personal streitet, aber alle wissen, dass Nuklear­waffen in der Garage stehen. Kann man das wollen?

Eine krachende Niederlage Russlands könnte also nur Besseres bringen, wenn das Kriegsende mit neuen Repräsentanten Russlands ausgehandelt würde. Dabei wird man kaum auf lupenreine Demokraten treffen. Einem Russland nach Putin könnte man aber einen Weg eröffnen, der aus der Aussichtslosigkeit herausführen könnte. Denkbar wäre eine Art Marshall-Plan für die Ukraine und Russland. Für Russland könnte das auch heißen, dem Land bei der Energietransformation zu helfen. Es hat nicht nur viel Öl, sondern auch viel Wind, Sonne und Platz.

Dieses Angebot könnte auch bei einem Friedensvertrag wie in Option 3 wichtig sein. Es wäre in beiden Fällen moralisch notwendig und politisch klug, Russland die Chance einer Zukunft zu eröffnen, damit nach dem Krieg nicht vor dem Krieg ist. Wir werden nur nicht bestimmen können, ob das Land diese Chance ergreift.

Was könnte der Beitrag der deutschen Außenpolitik sein? Kein kleiner. Deutschland ist das Land, dem nach der krachendsten aller Niederlagen ein solcher Weg angeboten wurde. Nach 1945 brauchten viele Deutsche lange, um sich von den Gebietsansprüchen im Osten zu ver­abschieden. Eingebunden in eine feste Nachkriegsordnung und mit einer klaren Entwicklungsperspektive, ist es aber gelungen. Auch Russland wird wohl noch lange brauchen, seine imperialen Gelüste zu überwinden. Vielleicht wiederholt sich Geschichte aber ja doch ab und zu.

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ist Redakteur der taz am Wochenende. 2020 war er als „Journalist in Residence“ zwei Monate zu Gast am WZB.

ist Politologe und Direktor der Abteilung Global Governance am Wissenschaftszentrum für Sozial­forschung Berlin (WZB).

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▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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