Behinderten-Expertin über Teilhabe: „Wir sind alle irgendwie behindert“

Menschen mit Handicap sollen heute selbstbestimmt leben können. Ada Aust arbeitet mit ihnen und hat selbst einen schwerstmehrfach behinderten Bruder.

Ada und David Aust Foto: Jan Zier

taz am wochenende: Deutschland ist ja sehr fortschrittlich, wenn es um Menschen mit Handicap geht: Das reformierte Bundesteilhabegesetz, das momentan umgesetzt wird, stellt den Menschen und seine Selbstbestimmung in den Mittelpunkt. Wird nun alles gut?

Ada Aust: Nein, nicht unbedingt!

Worum geht es denn eigentlich bei der Reform genau?

Es gab einen Paradigmenwechsel: Menschen mit einem Handicap wurden von Hil­fe­emp­fän­ge­r:in­nen zu Menschen mit eigenen Rechten. So will es das 2016 beschlossene Bundesteilhabegesetz (BTHG), das seither in vier Stufen eingeführt wird. Die entscheidende Stufe begann 2020 – also mitten in der Pandemie. Das Gesetz setzt die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 um. Vorher war das Prinzip der Fürsorge in der Behindertenhilfe sehr präsent. Fürsorge bedeutet oftmals aber auch Fremdbestimmung. Sie wollen ja auch nicht fremdbestimmt werden!

Nein! Jetzt gibt es viel Kritik an der Umsetzung des Gesetzes. Wo ist denn das Problem?

Es ist so fortschrittlich, dass die Strukturen, in denen wir arbeiten, da gar nicht mitkommen. Viele der bestehenden Einrichtungen, in denen Menschen mit Handicap wohnen, sind gar nicht für selbstbestimmtes Leben ausgelegt. Sie sind in einer Zeit entstanden, in der das Prinzip der Fürsorge die Behindertenhilfe prägte. Das ist auch heute noch spürbar. Hinzu kommen der Personalmangel und die Pandemie. Das System ist schlichtweg überfordert! Also wird vieles nur halbherzig umgesetzt und am Ende läuft es dann oft noch schlechter als vorher.

32, hat Philosophie und Anglistik studiert, sich danach auf Angewandte Ethik spezialisiert und deutschlandweit mit Menschen mit unterschiedlicher Behinderung bei verschiedenen Trägern in der stationären Eingliederungshilfe gearbeitet. Heute ist sie Sozialpädagogin in Niedersachsen und arbeitet als selbstständige Beraterin. Sie ist die gesetzliche Betreuerin ihres Bruder David, 31, der seit seiner Geburt körperlich und geistig behindert ist.

Die Einrichtungen verwalten die Menschen mit Handicap also eher?

Das Dilemma ist: Die meisten dieser „besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe“ sind Großeinrichtungen, in denen mehr als zehn Menschen in Wohngemeinschaften zusammenleben. Stellen Sie sich vor, Sie wohnen mit mindestens elf weiteren willkürlich zusammengewürfelten Menschen zusammen, teilen sich Bad, Wohnzimmer, Küche mit anderen Mitbewohner:innen. Glauben Sie wirklich, dass Sie Ihren Alltag dort nach Ihrem Willen gestalten können? Diese Wohnformen sind heute einfach obsolet, Selbstbestimmung kann da nicht gelebt werden! Pädagogische Konzepte wie das Empowerment kann man in so großen Wohngruppen nicht umsetzen – denn dafür wäre ein hoher Grad an Selbstbestimmung nötig. Der aber lässt sich da gar nicht sicherstellen.

Das Gesetz will aber, dass alle Menschen ihre Rechte wahrnehmen können.

Dafür müssen sie sich derer erst einmal bewusst werden! Und dieser Prozess fängt manchmal schon damit an, sein Lieblingsessen kochen zu können, wann auch immer man Lust darauf hat. Das geht nicht, wenn ich mit zehn anderen Menschen in einer WG lebe, aber für alle zusammen nur zwei Mit­ar­bei­te­r:in­nen habe. Da fehlen einerseits schlichtweg die personellen Ressourcen, andererseits bieten erst kleinere WGs die Möglichkeit, je­de:n Menschen entsprechend dem eigenen Bedarf zu begleiten.

Reicht es, wenn jede Wohngruppe doppelt so viele Mit­ar­bei­te­r:in­nen bekommt – was ja schon viel wäre?

Es wäre ein Anfang. Natürlich braucht es motiviertes, gut ausgebildetes und besser bezahltes Personal. Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten, erfahren nicht die nötige Anerkennung und Unterstützung und haben ein höheres Risiko, einen Burn-out zu bekommen. Durch die Coronapandemie sind die Arbeitsbedingungen noch herausfordernder geworden. Jedoch steht regelmäßige Supervision nicht überall auf der Tagesordnung. Es reicht nicht, nur zu klatschen und mal hier und da einen Bonus zu zahlen. Es braucht ein Umdenken auf allen Ebenen – viele Einrichtungen arbeiten ja noch sehr hierarchisch.

Wie soll die Teilhabe der Menschen mit Handicap in der Praxis denn funktionieren?

Alle Adres­sa­ten:­in­nen haben zum Beispiel ein eigenes Girokonto und dürfen über ihr Geld frei verfügen. Je nach Unterstützungsbedarf braucht es einen Assistierenden, der sie beim Bankbesuch und beim Einkauf begleitet und gemeinsam mit ihnen herausfindet, was sie überhaupt mit ihrem Geld anfangen wollen. Je schwerstmehrfachbehinderter jemand ist, desto herausfordernder ist das natürlich. Viele von ihnen wurden aber seit Jahrzehnten fremdbestimmt! Viele müssen erst mal lernen zu äußern, was sie wollen.

Kann Ihr schwerstmehrfach behinderter Bruder David das?

Ja. Er kann es nicht verbal äußern. Man kann an seinem Verhalten, seiner Mimik aber erkennen, was er gern isst, trinkt oder was ihm Freude macht – Musik etwa oder Stadionbesuche.

Was bedeutet das für Sie als Davids gesetzliche Vertreterin?

Meine Rolle hat sich nun geändert. Ich habe mehr bürokratischen Aufwand und bin mehr in der Pflicht, Davids Rechte und Interessen zu vertreten. Dabei stehe ich viel mehr in der Verantwortung. In der Rolle sind viele gesetzliche Ver­tre­te­r:in­nen überfordert, Eltern etwa, die alt sind und selbst Unterstützung brauchen.

Was genau sind denn Davids Interessen?

Er will zum Beispiel einmal in der Woche Fahrrad fahren gehen. Für diese Leistung bekommt die Einrichtung, in der er lebt, seit zwei Jahren Geld. Doch in 100 Wochen ist er höchstens 20-mal wirklich Rad gefahren. Die Einrichtung hat die Leistung, für die sie bezahlt wird, also gar nicht erbracht. Es gibt aber auch kaum Entschädigung für ihn. Wenn ich mich beschwere, werde ich als Schwester und gesetzliche Vertreterin schlimmstenfalls als „hysterisch“ abgestempelt. Menschen mit Handicap werden nicht als gleichberechtigt wahrgenommen, und in vielen Einrichtungen werden widerliche Machtgefälle ausgelebt, die vielen gar nicht bewusst sind. Wir gestehen Menschen mit Handicap vieles nicht zu, was für uns selbstverständlich ist.

Die Einrichtungen sagen: Wir können aktuell einfach nicht mehr Leistungen erbringen in der Pandemie, ohne Personal.

Dann müsste man sagen können: Man sucht sich einen neuen Dienstleister – das ist aber nicht möglich, weil es keine Wahlmöglichkeiten für Menschen wie David gibt. Der Markt regelt das nicht. Ich muss froh sein, überhaupt eine Einrichtung für ihn gefunden zu haben. Das ist absurd.

Viele Mit­ar­bei­te­r:in­nen sind schon seit Jahrzehnten in dem Beruf, ihre Kli­en­t:in­nen werden immer älter und brauchen mehr Unterstützung als früher. Ist das Teil des Problems?

Wir haben jetzt die ersten Generationen an Menschen mit Beeinträchtigung, die überhaupt 70 Jahre alt werden. Zu den Behinderungen kommen weitere altersbedingte Erkrankungen, etwa Demenz. Zudem – so mein Eindruck – wurde gerade auf die psychische Gesundheit vieler heute älterer Kol­le­g:in­nen nicht geachtet. Die Anforderungen sind immer weiter gestiegen, die Arbeitsbelastungen sind enorm. Viele sind einfach erschöpft.

Wie muss man sich bei Ihnen das Arbeiten unter den Bedingungen der Coronapandemie konkret vorstellen?

Ziemlich anstrengend, wenn ich ehrlich bin. Wir müssen weiterhin FFP2-Masken tragen. Das erschwert natürlich die Arbeit, ich bin sehr erschöpft, wenn ich nach dem Dienst nach Hause komme. Auch hat sich durch die Maske meine Arbeit erschwert, da ich in der Kommunikation mit den Adres­sa­ten:­in­nen meine Mimik nicht mehr wirklich nutzen kann – was so wichtig ist! Ich habe mich häufig gefragt, ob die Coronaregeln für die besonderen Wohnformen wirklich verhältnismäßig sind.

Früher konnten die Mit­ar­bei­te­r:in­nen dort noch mit den Be­woh­ne­r:in­nen nach Sylt oder Cuxhaven in den Urlaub fahren – das ist heute oft undenkbar, nicht nur wegen der Pandemie.

Ich würde nicht pauschal sagen, dass es früher besser war. Definitiv besser als damals ist die Anerkennung der Menschen mit einem Handicap als Rechtsinhaber. Das ist super. Aber ein System, das auf Fürsorge aufgebaut ist, ist praktikabler und einfacher.

Wenn die Adres­sa­t:in­nen nun immer älter werden und häufiger ins Rentenalter kommen, pflegebedürftig werden: Werden sie dann aus der Eingliederungshilfe irgendwann in Pflegeheime abgeschoben, die mit diesen Menschen oft überfordert sind?

Das ist zumindest das, was ich in meiner Berufspraxis erlebe. Schön wären kleine inklusive Wohngemeinschaften, die die Erfahrungen und das Fachwissen aller Seiten in den Alltag integrieren und ein selbstbestimmtes Leben im Alter auch für Menschen mit Handicap möglich machen.

Fehlt es an einklagbaren Rechten, um die Selbstbestimmung durchzusetzen?

Der gesetzliche Vertreter müsste jedes Mal die Rechte einfordern, gegebenenfalls auch vor Gericht. Aber das macht Arbeit, das kostet, das belastet, und man braucht auch Wissen dazu. Viele Anwälte, die gesetzliche Vertreter sind, besuchen nur einmal im Jahr ihre Klient:innen. Und wir müssen dahin kommen, die Adres­sa­t:in­nen aktiv mit in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Es fehlt aber auch an Aufklärung: Wie oft verletzen wir als Mit­ar­bei­te­r:in­nen die Menschenrechte in unserer Arbeit – auch wenn das pädagogisch begründbar scheint?

Wie gehen Sie in Ihrer eigenen Arbeit damit um?

Ich arbeite selbst in einem Rahmen, der es mir nicht erlaubt, nach meinen professionellen Maßstäben zu arbeiten. Das ist ein permanentes Dilemma.

Wie lösen Sie das?

Es gibt Tage, an denn will ich wie Pussy Riot oben ohne in den Bundestag stürmen mit dem Spruch „Fuck the System“ auf der Brust! Und es gibt Tage, an denen ich die Chance sehe, an einer Veränderung des Systems teilzuhaben. Man darf aber nicht mehr alles mitmachen. Was mich gelehrt wurde an der Uni, ist leider oft genug utopisch im Arbeitsalltag.

Was machen Sie als Ausgleich – wo sich doch Ihr ganzes Berufs-, aber auch ein wichtiger Teil Ihres Privatlebens um Menschen mit Handicap dreht?

Ich glaube, dass ich wahnsinnig viel von ihnen lernen kann. Es inspiriert mich zu versuchen, die Welt aus ihrer Sicht zu betrachten und einige von ihnen begleiten zu dürfen. So sind es nicht die Menschen, von denen es eines Ausgleichs bedarf. Es sind vielmehr die Arbeits- und Rahmenbedingungen, die mich so stressen.

Muss die Lage in den Einrichtungen erst noch schlimmer werden, ehe es besser wird?

Ich glaube, ja. Die, die entscheiden können, handeln nicht proaktiv. Da bin ich enttäuscht von den Generationen über mir, die dafür verantwortlich sind, dass hier Werte wie Gleichberechtigung, Toleranz, Selbstbestimmung nicht gelebt werden können. Deswegen sollten Mit­ar­bei­te­r:in­nen der Einrichtungen gegen die herrschenden Arbeitsbedingungen rebellieren.

Sie haben sich dagegen gewehrt, dass Ihr Bruder in der Pandemie weggesperrt wurde. Wie war das?

Er hatte vergangenes Jahr an Weihnachten Corona und war zunächst bei uns zu Hause in Quarantäne, sollte die restliche Zeit aber in seiner Wohngruppe absitzen, in seinem Zimmer. Er wurde dann vom Gesundheitsamt aus der Quarantäne entlassen. Trotzdem musste er noch zwei Tage in seinem Zimmer bleiben, aus dem er alleine nicht rauskann. Wir haben das nur durch Zufall erfahren. Dabei ist das Freiheitsberaubung!

Wie hat die Einrichtung auf Ihre Beschwerde reagiert?

Die Geschäftsleitung hat nie geantwortet, die Heimaufsicht konnte zwar bewirken, dass David zu einem Spaziergang begleitet wurde, aber es gab keine Konsequenzen für die Verantwortlichen. Mein Anwalt hat mir von einer Klage abgeraten: Die Erfolgsaussichten seien gering. Es gab aber auch keine Wiedergutmachung für David. Das ist grotesk. Schwerstmehrfach behinderte Menschen sind auch in dieser Randgruppe noch eine Randgruppe.

Müssten die Einrichtungen sich nicht auch gegen eine Politik und Gesetze wehren, die sie gar nicht umsetzen können?

Ja! Das fängt schon damit an, dass die veralteten, starren, unflexiblen Großeinrichtungen durch kleinere Wohngruppen ersetzt werden müssten.

Die aber würden in der Bevölkerung auf Widerstand stoßen!

In der Gesellschaft, in der wir heute leben: Ja. Jeder Einzelne müsste da aufgeklärt werden. Wenn ich einmal gelernt habe, die Welt aus einer anderen Perspektive als der meinen zu betrachten, muss ich mich auch von meiner eigenen ignoranten Weltsicht lösen. Eine humane Gesellschaft braucht auch die vermeintlich Schwachen, um Empathie zu entwickeln. Seien wir ehrlich, wir sind doch alle irgendwie behindert, wenn wir uns genau betrachten. Menschen mit Behinderung machen uns klar, dass das Leben verletzlich ist. Und es kann jeden treffen. Diese Menschen haben Fähigkeiten, das wird oft nicht gesehen. Mein Bruder hat wahnsinnig viel Lebensfreude und kann andere mitreißen – das ist doch eine Ressource!

Haben Sie wegen oder trotz Ihres Bruders diesen Berufsweg gewählt?

Weder – noch. Mein Bruder und ich sind lediglich eineinhalb Jahre auseinander. Das bedeutet, dass wir sehr eng miteinander aufgewachsen sind. Ich war oft mit ihm und seinen Freunden zusammen – beim Kinderschwimmen beispielsweise. Und ich bin da auch gerne mit hingegangen. Bei einem Besuch in einer Wohngruppe bekam ich zufällig mit, dass David nachts einen Ganzkörperbody angezogen bekommt – um zu verhindern, dass er sich selbst befriedigen kann. Anschließend sei die Schutzhose so zerfleddert und müsse gewechselt werden, hieß es. Auch erzählte man mir, dass man einem seiner Mitbewohner einen Waschlappen auf das erregte Genital gelegt habe. Die Mitarbeitenden haben sich darüber auch in meiner Gegenwart recht positiv unterhalten.

Sie waren entsetzt?

Ich empfand das einfach als falsch. Warum darf ich meine Sexualität ausleben, die beiden aber nicht? Mich inspirierte es, herauszufinden, ob dieses aus meiner Empathie entstandene Gefühl der Ungerechtigkeit rational begründbar ist. So kam ich zur Ethik.

Und dann haben Sie das Fach studiert.

Mein Bruder hat mich in diese Welt eingeführt und mir die Möglichkeit gegeben, einen Ausschnitt ihrer Wahrnehmungswelt schon als Kind erfahren zu dürfen. Das lässt mich vielleicht den Status quo kritischer hinterfragen.

Wenn man die Selbstbestimmung etwa Ihres Bruders weiterdenkt, müssten die Betroffenen selbst sagen können: Wir machen das System so nicht mehr mit.

Ja. Man müsste sie in leichter Sprache aufklären, ihnen ihre Rechte erklären, sie befähigen, politisch zu partizipieren. Durch Bewohner:innen-Vertretungen oder Werkstatträte findet das zumindest teilweise statt.

Warum aber sollten die Einrichtungen ihre Be­woh­ne­r:in­nen gegen sich aufbringen wollen?

Weil es die Vision ist! Und weil das Gesetz dem zustimmt.

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