Abschluss der Filmfestspiele Cannes 2022: Lachen mit Marx

Die Filmfestspiele von Cannes endeten mit einer Goldenen Palme für Ruben Östlund. Eine solide Entscheidung in einem durchwachsenen Jubiläumsjahr.

Der Filmemacher Ruben Östlund freut sich über den Gewinn der Goldenen Palme in Cannes

Mir Freude am Slapstick: Ruben Östlund Foto: Petros Giannakouris/ap

Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Dieser Spruch darf nicht fehlen, wenn ein russischer Düngemitteloligarch und ein US-amerikanischer Kapitän einer Luxusjacht sich die schönsten Zitate von Karl Marx in alkoholbefeuerter Eintracht an den Kopf werfen. Jedenfalls nicht in Ruben Östlunds Satire „Triangle of Sadness“, mit dem der Schwede am Sonnabend bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme geehrt wurde.

Der Entscheidung war unter Filmkritikern großes Rätselraten vorausgegangen, weil sich in diesem Jahr kein klarer Favorit abzeichnen wollte. Zu unterschiedlich fielen die Reaktionen auf die Wettbewerbsbeiträge aus, die gewohnt mit großen Namen aufwarteten, aber nur sehr vereinzelt für große Begeisterung sorgten. Ruben Östlund, der vor fünf Jahren mit der Kunstbetriebssatire „The Square“ ebenfalls die Goldene Palme erhalten hatte, überraschte mit seinem Folgesieg, der sich weniger eindeutig als Sieger empfahl.

Vorzüge hat das „Triangle of Sadness“ aber genügend. Der erste Teil der als Triptychon angelegten schwarzen Komödie allein schon lohnt sich zu sehen. Darin zeichnet der Streit eines Model-Paars darüber, wer im Restaurant die Rechnung bezahlt, sehr fein die manipulativen Seiten in Beziehungen nach, die Verunsicherung, die mit aufgeweichten Rollenbildern einhergeht, und die Schwierigkeit, ehrlich mit sich selbst zu sein.

Wenn man anschließend dieses Paar auf einer Luxusjacht begleitet, ist mit den Feinheiten schnell Schluss. Dann lernt es etwa ein freundliches älteres britisches Ehepaar kennen, das mit den spezialisierten technischen Produkten seines Unternehmens nach eigener Auskunft hilft, Demokratien rund um die Welt zu sichern. Auf Nachfrage der jungen Models erfahren diese, dass zum Portfolio ebenso Handgranaten wie Landminen gehören.

Auch den fröhlichen Oligarchen und seinen Gesprächspartner, den Kapitän, gespielt von Woody Harrelson, lernt man auf der Reise kennen. Die Fahrt läuft nicht ganz nach Plan, als ein Sturm aufkommt, müssen die Reisenden sehr viel Unverdautes von sich geben.

Freude am Slapstick

Doch selbst diese Plattheiten mit viel Freude am Slapstick kann man als gelungen betrachten. Es fällt einfach sehr schwer, nicht zu lachen. Ein weiterer schöner Einfall des Drehbuchs ist der Auftritt der Schauspielerin Iris Berben in der Rolle einer von einem Schlaganfall gezeichneten Dame, die sich lediglich mit der Phrase „in den Wolken“ mehr recht als schlecht Gehör verschaffen kann.

Die Wahl von „Triangle of Sadness“ ist mithin keine schlechte, selbst wenn man anderen Filmen die Auszeichnung eher gewünscht hätte. Nicht unbedingt für die Altmeister, die sich dieses Jahr selten von ihrer besten Seite zeigten. Eher für jüngere Kandidaten wie den Rumänen Cristian Mungiu, der mit „R. M. N.“ den Rassismus in seinem Land als Realsatire schildert. Seine Geschichte eines Orts in Siebenbürgen, der gegen Arbeiter aus Sri Lanka mobil macht, hat einen wahren Fall zum Vorbild und wäre einer Auszeichnung allemal würdig gewesen. Dass Mungiu leer ausging, war eines der Versäumnisse der Jury.

Für andere starke Beiträge gab es immerhin Nebenpreise. So erhielten die Belgier Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch für ihre in Italien mit italienischen Schauspielern gedrehte stille Romanverfilmung „Le otto montagne“ wenigstens den Preis der Jury. Den teilen sie sich mit dem polnischen Regisseur Jerzy Skolimowski, dessen „EO“ als Hommage an Robert Bressons Klassiker „Zum Beispiel Balthasar“ (1966) in seiner selbstverliebten Art zu den schwächeren Filmen gehörte. Trotz anrührender Eseldarsteller.

Mitunter sprunghaft

Verdient auch der Preis für die Beste Regie, der an den Koreaner Park Chan-wook für dessen rätselhaften Thriller „Decision to Leave“ ging. Die Weise, wie sich bei ihm Thriller und Romanze verbinden, wirkte mitunter sprunghaft, speiste einen dafür jedoch nie mit Erwartbarem ab.

Weniger überzeugend gelang diese Kombination bei der Französin Claire Denis in ihrem Beitrag „Stars at Noon“. Die Begegnung einer Journalistin und eines dubiosen Geschäftsmannes in Nicaragua verliert sich eher im Diffusen, als dass sie daraus ihren Reiz bezöge. Der Große Preis der Jury war da nicht ganz nachvollziehbar. Genauso wenig die anteilige Verleihung dieses Preises an den Belgier Lukas Dhont, dessen Drama „Close“ über die tragische Freundschaft zweier Jungen starke juvenile Darsteller aufbot, die Geschichte dieser gescheiterten Nähe aber nicht ausreichend herausarbeitete.

So bleibt eine Ausgabe mit einem Weltkino, das selten etwas riskiert. Am ehesten taten das noch der Kanadier David Cronenberg, der seine Spezialität, den Body Horror, in „Crimes of the Future“ zu neuen komischen Höhen trieb, und der in Dänemark lebende iranische Regisseur Ali Abbasi, dessen Thriller über Gewalt gegen Frauen immerhin mit einem Preis für die beste Schauspielerin bedacht wurde. Zar Amir Ebrahimi, die darin eine Investigativjournalistin spielt, erhielt die Auszeichnung denn auch zu recht.

Seltsame Dinge geschehen

Auch in den Nebenreihen musste man sich nach Entdeckungen ein wenig umsehen. In der unabhängigen Reihe „Qinzaine des réalisateurs“ gab es mit „Enys Men“ des britischen Filmemachers Mark Jenkin ein formal und rhythmisch strenges, zugleich stimmiges Gespensterstück, das auf der Insel Enys Men spielt. Mary Woodvine gibt darin die einzige Bewohnerin, die in immergleicher Routine die Flora des einsamen Einlands vor der Küste Cornwalls beobachtet. Bis seltsame Dinge geschehen.

Seltsame Dinge geschehen auch im französischen Film „La montagne“ des Regisseurs Thomas Salvador, der zugleich die Hauptrolle eines Unternehmers spielt, dessen Begeisterung für die Berge ihn buchstäblich immer tiefer ins Felsmassiv eindringen lässt. Eine höchst ungewöhnliche Variation über das Motiv des Alpenglühns. Mit „Le parfum vert“ seines Landsmanns Nicolas Pariser kommt eine schräge Krimikomödie hinzu, in der Sandrine Kiberlain als exzentrische Comic­zeichnerin und Vincent Lacoste als Schauspieler der Comédie Française unversehens im Herzen einer rechten Verschwörung gegen die Demokratien Europas landen.

Frische Blicke gab es zudem in der Reihe „Un certain regard“ zu begrüßen. Der Australier Thomas M. Wright begeisterte mit seinem lakonischen Krimi „The Stranger“, der als Porträt zweier verlorener Männer die Darsteller Joel Edgerton und Sean Harris brillieren lässt. In „The Silent Twins“ geht die polnische Agnieszka Smoczyńska eindringlich dem Schicksal zweier schwarzer Zwillingsschwestern in Schottland nach, deren Kreativität mit den Anforderungen der Realität kollidiert. Und mit ihrem Debütfilm „War Pony“ zeigen die Filmemacherinnen Riley Keough und Gina Gammell mit spontaner Energie das Aufwachsen zweier Lakota-Jungen im Pine-Ridge-Reservat. Für ihre Arbeit mit Laiendarstellern konnten sie sich über die Camera d’or für den besten Erstlingsfilm freuen.

Letzte Aufnahmen aus Mariupol

Über dem Festivaltrubel, bei dem man die Tage gern mit zu vielen Filmen vollstopfte, drohte die Realität des Kriegs Russlands gegen die Ukraine aus dem Blick zu geraten. Ein Korrektiv im Programm bildeten die letzten Aufnahmen des litauischen Filmemachers Mantas Kvedaravičius aus der Hafenstadt Mariupol. Nachdem dieser von russischen Soldaten getötet wurde, schaffte seine Verlobte Hanna Bilobrova das Material außer Landes und stellte den Film fertig. Die Bilder des Eingeschlossenseins, vom Grundstück einer Kirche aus gefilmt, ringsum zerstörte Gebäude, vermitteln vor allem, was es heißt, unter Belagerung auszuharren.

Kvedaravičius’ aktuelles Vermächtnis korrespondierte mit den historischen Bildern des ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa in dessen Dokumentarfilm „The Natural History of Destruction“ über die Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg. Und markierte deutlich die Differenz dieser Bilder. Der Aggressor war bei Loznitsa schließlich Deutschland selbst. Dessen Propagandastrategie damals ähnelt erschreckend der von Russland heute.

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