Neue Jugendorganisation in Russland: Putin wird wieder Jungpionier

Die Pionierorganisation wurde in Russland zuletzt belächelt. Nun will der Kreml Kinder wieder formieren – mit dem Präsidenten an ihrer Spitze.

Eine Gruppe von Kindern steht in einer Reihe. Im Vordergrund bindet ein Mädchen einem Jungen ein Halstuch zurecht

Russische Jungioniere am 19. Mai in Nowosibirsk

MOSKAU taz | Eine Geschichte, die viele russische Eltern ihren Kindern auch heute noch erzählen dürften, geht so: Es gibt da ein Land, das schön ist und bunt, mit fröhlichen Mädchen und Jungen. Sie sind hilfsbereit und gut in der Schule, sie essen mit den Alten und spielen mit den Kleinen, sie sammeln Müll im Wald und singen Lieder am Lagerfeuer. Es ist ein Land voller Legenden über Stürme und Feuer und Kämpfe. Es nennt sich „Pionierien“, das Land der Pioniere.

Die Erzählungen stecken voller Nostalgie. Die Eltern verbinden sie mit ihrer eigenen Zeit bei der Jugendorganisation, als sie, meist mit zehn, den Eid auf Wladimir Iljitsch Lenin, den großen sowjetischen Revolutionär, schworen, sich stolz ein rotes seidenes Tuch um den Hals binden durften und dazugehörten – auf dem vorgezeichneten Weg im Dienste der kommunistischen Heimat.

Als die Sowjetunion zerbrach, zerbrachen auch ihre Jugendorganisationen. Die Pioniere blieben zwar bestehen, führten all die Jahre aber ein Nischendasein. Sie waren eine Organisation unter vielen. Vorgestrig, getränkt mit der Sehnsucht der Erwachsenen nach klaren Vorgaben. Viele haben die Pioniere belächelt oder ganz vergessen.

Jetzt soll wieder eine einzige landesweite Kinder- und Jugendorganisation entstehen. Die Gesetzesvorlage dafür dürfte das russische Parlament problemlos passieren, alle fünf Parteien in der Duma haben sich für die Neuorganisation verschiedener Jugendgruppen bereits ausgesprochen. Die Kinder sollen schließlich im „richtigen patriotischen Geist erzogen werden“, wie es im Dokument heißt. Die Umformung der russischen Gesellschaft schreitet voran, bereits Kindern ab sechs soll klargemacht werden, dass das Abweichen vom „richtigen Weg“ nicht zu seinem Wohl führt. Es ist das Vaterland, das zählt. Die Jungen sollen es für zukünftige Generationen „bewahren“ – im Sinne des heutigen politischen Systems im Land.

Die neuen Pioniere sollen den Namen „Die große Pause“ tragen, wobei das russische Wort für „Pause“ (peremena) auch mit „Wandel“ übersetzt werden kann. Der russische „Wandel“ ist patriotischer Natur. An der Spitze der Organisation steht der russische Präsident Wladimir Putin. Jedes Dorf, jede Schule soll eine Abteilung der „Großen Pause“ schaffen, die Grup­pen­lei­te­r*in­nen bestimmt der Präsident. Sie sind mit für die „Erziehung und Freizeitgestaltung“ der Kinder zuständig, die Bildung dieser soll auf der Grundlage „traditioneller russischer Werte für Geist und Moral“ erfolgen. „Hohe moralische Qualitäten“ und die „Liebe zum Vaterland“ sind dabei programmatisch.

Der Fahnenappell wird zur Pflicht

Letztlich ändert der Plan, eine neue, landesweite Jugendorganisation zu schaffen, wenig an der bereits vorhandenen starken Indoktrinierung der Kinder in Russland. Er manifestiert diese lediglich in gesetzlich verankerten Strukturen. Der Patriotismus-Unterricht ist seit Jahren Pflicht an staatlichen Schulen, Kadettenklassen, in denen Jungen wie Mädchen den Gleichschritt üben wie auch das schnelle Auseinandernehmen und Zusammensetzen von Kalaschnikow-Gewehren, erfreuen sich vor allem bei Eltern aus Sicherheitsstrukturen, auch in Metropolen, großer Beliebtheit. Gleich nach dem Überfall der Ukraine, den Russland offiziell „militärische Spezialoperation“ nennt, verteilte das russische Bildungsministerium Handbücher an Leh­re­r*in­nen mit Erklärungen, wie sie mit ihren Schü­le­r*in­nen über die „Ereignisse in der Ukraine“ sprechen sollten.

Der Staat zwang die Schulen dazu, Berichte und Fotos der Unterstützung der „Spezialoperation“ offenzulegen. Selbst Kindergartenkinder sollten sich in Z-Formationen aufstellen und so den russischen Soldaten beistehen. Manche Schulen stellen – auf die Initiative der Regierungspartei „Einiges Russland“ – sogenannte „Helden-Schulbänke“ auf, als Erinnerung an die gefallenen Soldaten in der Ukraine. Nur Mus­ter­schü­le­r*in­nen dürfen an der „Ehrenbank“ Platz nehmen.

Ab dem 1. September müssen die Schü­le­r*in­nen an jeder staatlichen russischen Schule einmal in der Woche die russische Hymne singen und die russische Flagge hissen. Zudem soll Geschichtsunterricht bereits ab der ersten Klasse Pflicht werden, nicht erst ab der fünften. Die staatlich vorgegebene Sicht auf Geschichte ist so, wie der Oberhistoriker des Landes, der Präsident, diese sieht: Russland als ein Land, das fremde Mächte durch Jahrhunderte hinweg zu knechten versucht hätten, und sich stets für seine Einzigartigkeit mit allen Mitteln zur Wehr setze. Es ist eine politisierte Geschichte, die zu hinterfragen auch strafrechtliche Schritte nach sich ziehen kann.

Bis ins Detail durchorganisiert

Zwar ist das russische Schulgesetz sehr frei, sodass jeder Lehrer und jede Lehrerin das Unterrichtsprogramm auch selbst bestimmen darf. Doch viele Leh­re­r*in­nen begreifen sich als loyale Staatsdiener*innen, deren Aufgabe es sei, die Politik des Staates in die Klassenzimmer zu tragen, auch wenn staatliche Propaganda in den Schulen gesetzlich verboten ist. „Die große Pause“ mit all ihren Ebenen greift noch mehr ins Schulleben ein.

Die Organisation soll freiwillig sein, der gesellschaftliche Druck auf die Menschen, zumal, wenn es um ihre Kinder geht, ist allerdings enorm. Auch zu Sow­jetzeiten waren die Pioniere formal gesehen freiwillig und doch ein fester Bestandteil des Bildungssystems, das den Weg jedes sowjetischen Bürgers sehr genau vorgab: vom „Oktoberkind“ in der Grundschule über den Pionier bis hin zum Komsomolzen und schließlich zum Parteimitglied. Nur die Loyalsten kamen weiter. Die Pioniere waren, ganz klar, eine Parteistruktur und der kommunistischen Ideologie von der „hellen Zukunft“ verpflichtet.

Den neuen Pionieren sprechen die Un­ter­stüt­ze­r*in­nen jegliche Ideologie ab und verkaufen die Jugendorganisation als eine Bewegung von unten. Gleichzeitig sind die Strukturen der „Großen Pause“ bis ins Detail von oben geregelt. Es sei eine „Imitation von Wahl und Freiheit der Jugend“, sagt der Soziologe Daniil Alexandrow von der Higher School of Economics in Sankt Petersburg. Das Land brauche keine weitere Bürokratisierung samt Gleichschritt und bestimmten Losungen. Das Land brauche vor allem in der Provinz Organisationen für Kinder und Jugendliche, wo diese sich selbst entfalten könnten. Entfaltung aber ist in Russland dieser Tage fast nur noch gestattet, wenn sie im Sinne des Kremls geschieht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.