Nationalsozialismus und Kolonialität: Der Schmerz der Anderen

Die NS-Erinnerungskultur ist bedroht. Ein Plädoyer, sie aus dem Geist der Empathie und der Solidarität neu zu begründen – radikal universell.

Ein Junge legt auf dem Friedhof in Butscha am Stadtrand von Kiew eine Schokolade auf das Grab seines Vaters

Das Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ erscheint am Freitag

Schreibt die Gegenwart die Geschichte um? Der Ukrainekrieg ist ein Kampf um Erinnerung, um das moralische Erbe des Zweiten Weltkriegs und des Antifaschismus – und dieser Kampf wird keineswegs nur von Putin geführt. Manche bezeichnen mit den Begriffen Holocaust, Endlösung und Auschwitz nun gegenwärtige Schrecken, die einen tun es aus Verzweiflung, andere aus politischem Kalkül.

Wer eben noch mit dogmatischer Strenge auf der Singularität der Shoah bestand, nennt Putin nun den neuen Hitler. Wer gestern einer postkolonialen Linken vorwarf, sie relativiere den Judenmord, versenkt die Spezifik der NS-Verbrechen heute in einem wiederentdeckten Antitotalitarismus. Als wolle die öffentliche Debatte gar hinter den Historikerstreit von 1986 zurückfallen.

Ich halte die neue Trivialisierung von NS-Verbrechen und die alte Ausgrenzung kolonialer Opfer für zwei Gesichter desselben Phänomens: eines seelenlosen und im Kern desinteressierten Gedenkens. Die Alternative dazu ist, Erinnerungskultur und Antifaschismus aus einem Geist der Empathie und Solidarität neu zu begründen. Mein Buch, „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, das am Freitag erscheint, ist dazu ein Beitrag.

Ich habe mir dafür Inspirationen in diversen Ländern geholt; denn ein neues, inklusives Erinnern bedarf einer veränderten Ethik der Beziehungen, muss deutsche und europäische Selbstbezogenheit hinter sich lassen. Und zeigt nicht gerade die Geschichte der Ukraine, wie unklug es ist, die Berührungspunkte von Nationalsozialismus und Kolonialität zu leugnen? Als sogenannter Lebensraum und als Kornkammer war die Ukraine ein Herzstück von Hitlers Expansion nach Osten.

Zwei Gesichter desselben Phänomens

Längst kennt die Forschung den Begriff NS-Kolonialismus, und der rassistische Charakter des Ostfeldzugs ist heute unstrittig. Manche Hinweise darauf sind atemberaubend präzise. Nichtdeutsche Gehilfen in den Vernichtungslagern, die meist unter sowjetischen Kriegsgefangenen rekrutiert worden waren (darunter zahlreiche Ukrainer), hießen in der Umgangssprache von Wehrmacht und Einsatzgruppen „Askari“ – so wie drei Jahrzehnte früher die afrikanischen Hilfssoldaten in der Kolonie Deutsch-Ostafrika.

Ein Wort arabischen Ursprungs, schlicht Soldat bedeutend, gelangte über Swahili in den Wortschatz der Kolonialherren und von dort an die Schauplätze der Shoah in Osteuropa. Die ukrainischen Hilfstruppen der SS wurden auch als „Schwarze“ bezeichnet. Historische Redlichkeit verlangt, gerade heute an die Dimensionen der NS-Verbrechen in der Ukraine zu erinnern. Die deutschen Besatzer ermordeten dreieinhalb Millionen Zivilist:innen, davon waren anderthalb Millionen jüdisch.

Weitere dreieinhalb Millionen Ukrainer starben als Soldaten der Roten Armee oder an Kriegsfolgen. Und doch lösen ukrainische Städtenamen in Nachrichtensendungen kaum Assoziationen aus, die auf uns zurückverweisen würden. Mariupol: von der Wehrmacht in Schutt und Asche gelegt. Charkiw: die Straßen der Innenstadt voller aufgehängter Partisanen, tatsächlicher oder vermeintlicher; die Leichen hingen tagelang zur Abschreckung.

Was in der Ukraine und in Belarus geschah, darüber herrscht bei uns bedrückende Unkenntnis. Dieses Ausblenden, über so viele Jahrzehnte, hat mit antislawischer Verachtung zu tun – eine Leerstelle im Gedenken, die der Indifferenz gegenüber südlichen Opfern der Kolonialzeit durchaus verwandt ist. Derzeit befasst sich eine Ausstellung in Amsterdam mit den niederländischen Kolonialverbrechen in Indonesien: Massenexekutionen von Zivilisten, um die Unabhängigkeitsbewegung niederzuringen.

Bedrückende Unkenntnis

Von welcher Zeit sprechen wir? Von der Zeit der Nürnberger Prozesse. Zwischen 1945 und 1949, als sich NS-Täter vor den Tribunalen verantworten mussten, begingen Franzosen, Briten und Niederländer in ihren Kolonien Verbrechen, die nach den Kriterien des Nürnberger Statuts gleichfalls crimes against humanity waren.

Als in Amsterdam 1947 unter dem Titel „Het Achterhuis“ (Das Hinterhaus) die erste Ausgabe der Tagebücher von Anne Frank erschien, nahmen niederländische Soldaten in der Kolonie den Kindern ganzer Dörfer die Väter. Von der proklamierten Universalität der Rechte wurde nach 1945 ein Großteil der Menschheit begründungslos ausgeschlossen. Das sich entwickelnde Völkerrecht fand für die Taten von Europäern außerhalb Europas keine Anwendung.

Es gab für die Kolonien weiterhin eine andere Moral, eine andere Ethik, und die Erfahrung des Nationalsozialismus, des Holocausts hatte daran nichts geändert. Kann es verwundern, dass sich dies direkt oder indirekt in außereuropäische Betrachtungen der Shoah eingeschrieben hat? Die Verweigerung einer Universalität, die sich an der Gleichheit der Menschen und dem gleichen Recht auf Unversehrtheit orientiert, zieht sich bis in unsere Tage, als Normalität einer moralischen Asymmetrie.

Und erneut können wir einen Bogen zur Ukraine schlagen: Wer sich fragt, warum die Genoziddefinition so eng ist, dass sie die Verbrechen von Butscha möglicherweise nicht erfasst, findet einen Teil der Antwort hier: Die Kolonialmächte wollten bei der Aushandlung der Konvention ihre eigenen Massentötungen von Zivilisten als vermeintlich normale Kriegsführung außen vor halten.

Der Holocaust galt als Modell schlechthin für Genozid, obwohl der Urheber des Begriffs, Raphael Lemkin, zur Illustration bereits koloniale Gewalt mit herangezogen hatte. Welches Leid hat Stimme, welcher Schmerz spricht zur Welt? Wie die Ökonomie der Empathie funktioniert und wie kollektive Annahmen steuern, wen wir als unsrig, als zugehörig empfinden, erleben wir in diesen Wochen. Die Grenze Europas verlaufe dort, wo die Barbarei beginnt, war jüngst zu lesen. Eine Denkfigur, die allerdings geradewegs ins Thema führt.

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