Verkehrswende in Hamburg: Autos raus – Platz zum Leben

Nach einem Verkehrsversuch gibt es ein Konzept, Hamburg-Ottensen autoarm zu machen. Anwohner kritisieren Kampfradler und Parkplatzmangel.

Menschen mit Regenschirmen auf einem markierten Stück Straße, auf dem "Ottensen macht Platz" steht

Platz für Menschen statt für Autos: Vekehrsversuch in Hamburg-Ottensen im September 2019 Foto: Bodo Marks/dpa

HAMBURG taz | Ein Szene-Stadtteil macht Platz: Platz für Fußgänger und Radfahrer, Platz zum Rumsitzen und Gärtnern, zum Bummeln und Spielen. In Hamburg-Ottensen sollen Autos künftig nur noch die zweite Geigen spielen. Wie das gehen soll, steht in einem Konzept, das am Montagabend in einer öffentlichen Anhörung kritisch diskutiert wurde. Es ging um „renitente Radler, fehlende Parkplätze“ und „grüne Oasen“. Trotzdem könnte es der kleine Anfang einer großen Wende sein.

Ottensen liegt direkt neben dem Bahnhof Altona. Es ist ein Ort, an dem sich Konflikte um den Straßenraum buchstäblich verdichten. Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein Dorf, entstanden hier im Zuge der Industrialisierung Glashütten, Schiffsschrauben- und Kran­fabriken. In den engen verwinkelten Straßen wurden Gründerzeithäuser direkt neben Fabriken hoch­gezogen. Heute ist das charmant, weil es überall in den Straßen kleine Geschäfte, Cafés und Kneipen gibt.

Wer hier durchfahren will, muss sich auf Schritttempo beschränken wegen der Radfahrer, die ihm entgegenkommen, und wegen der Fußgänger, die von den schmalen Gehsteigen auf die Straße treten. Abends beim Feiern sitzen die Leute auf den Kantsteinen, weil sie rauchen wollen oder die Bar überfüllt ist. Es ist ein erzwungenes Miteinander, das eigentlich ganz gut funktioniert, zumindest wenn man nicht hier wohnt.

Weil es so eng und voll ist, hat sich 2017 eine Bürgerinitiative für eine Verkehrswende im Quartier gegründet. Die Politik hat diesen Impuls aufgegriffen und im September 2019 einen Verkehrsversuch gestartet, der wissenschaftlich evaluiert wurde. 56 Prozent der Anwohner und 44 Prozent der Gewerbetreibenden waren am Ende dafür, das Projekt weiterzuentwickeln. Das Ergebnis ist eben jene „Vorzugsvariante“ für das Zentrum des Stadtteils, die am Montag diskutiert wurde und am Mittwoch von der Altonaer Bezirksversammlung beschlossen werden soll.

Wie verhindert werden soll, dass Fußgänger und Radler einander an den Kragen gehen, ist eine offene Frage

Die Vorzugsvariante bietet einen Rahmen, der im Weiteren an den verschiedenen Straßen und Plätzen ausgestaltet werden muss. Das Konzept sieht ein Kreuz von Hauptstraßen und dazu noch einige kurze Straßenabschnitte „ohne allgemeinen Kfz-Verkehr“ vor. Anwohner sollen zwischen 23 und 11 Uhr einfahren können. Ausnahmen gibt es für Menschen mit Behinderung, Anwohner mit Parkplätzen im Hof oder Taxen.

In höchstens 150 Metern Entfernung soll es Ladepunkte geben, an denen PKW und Lieferfahrzeuge halten können. Der Autoverkehr soll in vielen separaten Schleifen in das Quartier hinein- und wieder hinausgeführt werden, sodass Schleich- und Durchgangsverkehr vermieden wird. Insgesamt 330 öffentliche Parkplätze im Straßenraum fallen weg. Entgegen dem Beschluss der Bezirksversammlung sollen aber 90 solcher Parkplätze erhalten bleiben. Am Rande des Projektgebiets gibt es zwei öffentliche Parkhäuser.

Ziel ist es, Platz freizumachen für breite Gehsteige, Stadtmöbel und Pflanzinseln. Was die Bürger und Gewerbetreibenden mit den Flächen anfangen, ist im ordnungsrechtlichen Rahmen ihrer Fantasie überlassen. Einige Straßen sind explizit für eine Begrünung vorgesehen, andere als Hauptrouten für den Fahrradverkehr ausgewiesen. Eine Fahrradstraße soll von Norden nach Süden durch das Gebiet führen, flankiert von großzügigen Flächen für Flaneure.

Die Fahrradstraße illustriert auch einen drohenden Konflikt, denn sie kreuzt den Beginn einer Fußgängerzone. Wie verhindert werden soll, dass hier Fußgänger und Radler einander an den Kragen gehen, ist eine offene Frage. Bei der Anhörung mit ihrem nicht repräsentativen Publikum gab es Kritik an aggressiven Radlern, die auf Gehsteigen oder in der Fußgängerzone führen und sich nichts sagen ließen. Andere monierten den Wegfall von Parkplätzen und fürchteten, die Parkplatzsuche und der Verkehr könnte in benachbarte Quartiere verdrängt werden.

Die Verlagerung auf die Umliegenden könne qualitativ abgeschätzt werden, heißt es in der Zusammenfassung des Verkehrskonzept. Die Erfahrung zeige, dass die Sperrung einer Straße in der Regel nicht zu mehr Verkehr in Parallelstraßen führe. „Stattdessen weicht ein großer Teil des bisherigen Kfz-Durchgangsverkehrs großräumig oder auf andere Verkehrsmittel aus“, schrei­ben die Autoren aus Bezirksamt und dem Planungsbüro Argus. Von den Anwohnern besitzen ohnehin nur 27 Prozent ein Auto, gegenüber hamburgweit 34 Prozent.

Sorge vor noch mehr Nachtleben

Einige Redner sorgten sich um auch künftig zu viel Verkehr in ihrer Straße, andere wiederum befürchteten, dass das ohnehin schon attraktive Viertel noch anziehender werden könnte. „Für wen machen wir Platz?“, fragte ein Anwohner. „Ich habe Sorge, dass wir noch mehr Nachtleben haben werden.“

Der Sprecher der Berufsgenossenschaft Verkehr stellte die Frage, wie der Lieferverkehr für seine 600 Kollegen abgewickelt werden solle. Und die Besitzerin eines Blumenladens in einem „Bereich ohne allgemeinen Kfz-Verkehr“ kritisierte, die vorgesehene Lieferzeit passe nicht zu ihrer Geschäftspraxis.

Klagen über mangelnde Beteiligung und Transparenz konnten die Vertreter des Bezirksamts mit Hinweisen auf das Verfahren abschmettern: 120 Gewerbetreibende seien aufgesucht und befragt worden, es habe Infoveranstaltungen, Workshops und Fokusgruppen gegeben mit 625 Teilnehmern und 2.000 Online-Beiträgen.

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