Historikerin Prestes über Brasilien: „Kommunisten brauchen Geduld“

Die Mutter von Nazis ermordet, der Vater Gründer der Kommunistischen Partei Brasiliens: Anita Prestes' Leben ist Teil der Geschichte. Ein Gespräch.

Portraitfoto von Anita Prestes

Noch immer folgt Anita Prestes den Familien-Maximen: Geduld haben und auf Seite der Unterdrückten stehen Foto: Luisa Macedo

Der Catete-Palast ist ein imposantes, neoklassisches Bauwerk mitten in Rio de Janeiro. Einst saß dort die Regierung Brasiliens. Doch die Stadt am Zuckerhut ist 1960 von Brasília als Hauptstadt abgelöst worden, und so befindet sich in dem früheren Amtssitz heute ein Museum, rundherum ein kleiner, mondän wirkender öffentlicher Park mit verzierten Brunnen, Palmen und einem künstlichen See – eine grüne Oase mitten in der Sechsmillionenmetropole. Anita Prestes geht oft hier spazieren, auch an diesem warmen Tag. Freundlich wird die 85-Jährige von einer Passantin gegrüßt: „Olá, senhora Anita!“

taz: Frau Prestes, dort drüben im Palast beging Getúlio Vargas, der diktatorisch herrschende angebliche „Präsident der Armen“ und glühende Antikommunist, im Jahr 1954 Suizid. Er lieferte Ihre Mutter Olga Benario nach Nazideutschland aus, wo sie ermordet wurde. Hat dieser Ort deshalb eine besondere Bedeutung für Sie?

Anita Prestes: Nein, ich finde es einfach schön hier. Und durch die angrenzende Guanabara-Bucht ist es hier im Sommer kühler als im Rest der Stadt.

Sie wurden in eine bekannte Familie geboren: Ihre Mutter war die deutsch-jüdische Kommunistin Olga Benario, Ihr Vater, Luís Carlos Prestes, gründete die PCB, die Kommunistische Partei Brasiliens. 1935 wagten Ihre Eltern mit einer Handvoll Mit­strei­te­r*in­nen einen Aufstand gegen das von Vargas angeführte Militärregime der jedoch scheiterte. Wo beginnt Ihre persönliche Geschichte?

Im Oktober 1936 wurden meine Mutter und ihre Genossin Elisa Ewert aus Brasilien abgeschoben. Mit einem Frachtschiff wurden sie nach Hamburg gebracht, und von da aus kamen sie direkt in das Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin-Friedrichshain. Dort kam ich 1936 zur Welt.

Wie gelang Ihre Rettung aus dem Gefängnis?

Es gab eine große, internationale Kampagne, angeführt von meiner Oma väterlicherseits und meiner Tante Lígia. Es ging um die Freilassung politischer Gefangener, allen voran meines Vaters, deshalb hieß die Kampagne „Prestes“. Aber sie kämpften auch für mich und meine Mutter. Von Paris aus haben meine Oma und meine Tante das „Komitee Prestes“ koordiniert, sie sind mit der Kampagne quer durch Europa gereist. Auch in Lateinamerika, Asien und den USA gab es ein großes Echo.

Mein Fall hat die Öffentlichkeit besonders interessiert, ich war ja noch ein Baby. Hitler und Göring wurden mit Briefen und Telegrammen bombardiert, Delegationen reisten nach Deutschland, um für meine Freilassung zu demonstrieren. Ich habe später ein Buch darüber geschrieben. Aus den Gestapo-Archiven konnte ich entnehmen, dass sich die Nazis von dieser Kampagne extrem gestört fühlten. Deshalb wurde ich im Januar 1938 meiner Oma übergeben. Wir gingen erst nach Paris und dann nach Mexiko-Stadt, wo viele Antifaschisten Exil fanden.

Und Ihre Mutter?

Sie war eine bekannte Kommunistin. Es bestand keine Chance, sie freizubekommen, auch weil sie nie ihre Genossen verraten hat. Die Gestapo ließ niemanden an sie heran. Nachdem ich gerettet worden war, kam meine Mutter im März 1938 ins Konzentrationslager. Erst nach Lichtenburg, dann nach Ravensbrück. 1942 wurde sie in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet.

Die Professorin und Publizistin

Als Anita Leocádia Prestes kam sie 1936 zur Welt, heute lehrt sie brasilianische Geschichte an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro. Im Laufe ihres Lebens veröffentlichte sie mehrere Bücher über die Historie der Arbeiter­bewegung und des Kommunismus.

Die berühmte Mutter

Olga Benario wurde 1908 als Tochter einer jüdischen Anwaltsfamilie in München geboren und trat früh der Kommunistischen Jugend bei. Nach Stationen in Berlin und Moskau wurde sie 1935 von der Kommunistischen Internationale nach Brasilien geschickt, um dort an der Seite des Brasilianers Luís Carlos Prestes die Revolution voranzutreiben. Das Paar zeugte Anita. Der Aufstand scheiterte. Benario kam in Haft, wurde nach Deutschland ausgeliefert und am 23. April 1942 von den Nazis ermordet. In der DDR galt Olga Benario als Ikone. Straßen, Kindergärten und Produktionsbrigaden wurden dort nach ihr benannt.

Vom Tod Ihrer Mutter erfuhren Sie aber erst Jahre später.

Ja. Mein Vater hatte große Hoffnung, dass sie noch leben könnte. Doch 1945, als die sowjetische Armee Ravensbrück einnahm, erhielten wir ein Telegramm, dass meine Mutter in der Gaskammer ermordet worden war. Für meinen Vater war das sehr schlimm. Ich selbst habe keinerlei Erinnerung an sie. Aber meine Verwandten erzählten mir viel, ich kannte ihre Geschichte und hätte sie sehr gerne kennengelernt. Natürlich war ich traurig, aber es war kein Trauma für mich.

Als es im Jahr 1945 eine Amnestie für politische Gefangene gab, kamen Sie nach Brasilien, die Heimat Ihres Vater. Wie nahmen Sie jene Zeit wahr?

Die Nachkriegszeit war ein Moment des demokratischen Aufbruchs. Viele Menschen erfuhren, was mit meiner Mutter geschehen war. Die Anteilnahme war sehr groß. Doch dann begann der Kalte Krieg, und 1947 wurde die Kommunistische Partei in Brasilien verboten. Ein Jahr darauf verloren alle kommunistischen Abgeordneten ihre Mandate, auch mein Vater, der Senator war. Es begann eine Zeit der Repression und Verfolgung, es gab politische Morde. Ich erinnere mich daran, dass die Polizei ständig an unserem Haus vorbeifuhr. Nachdem ein Haftbefehl gegen meinen Vater und viele seiner Genossen ausgestellt wurde, gingen sie in den Untergrund.

Sie lebten fortan getrennt von Ihrem Vater. Wie war das für Sie?

Natürlich hätte ich gerne meinen Vater bei mir gehabt. Aber ich hatte immer viele Menschen um mich herum und ich wurde mit Liebe aufgezogen. Meine Tante Lígia war wie eine Mutter für mich. Es bestand eher die Gefahr, dass ich zu sehr verwöhnt wurde.

War es für Sie immer klar, dass Sie dem Weg Ihrer Eltern folgen würden?

Politisch gesehen ja. Aber ich wollte nie professionell Politik machen. Wegen der Verfolgung und konkreter Drohungen entschied die Kommunistische Partei, mich im Jahr 1949 nach Moskau zu schicken. Dort habe ich die gesamte Oberstufe absolviert, habe Russisch und viel über das Land gelernt. In der Sowjetunion erfuhren wir große Solidarität, das Schicksal meiner Mutter war dort vielen Menschen bekannt. Nur das Wetter war für mich als Brasilianerin schwierig. Im Sommer sind wir an die Strände des Schwarzen Meeres gefahren.

Als ich wieder nach Brasilien zurückkehren konnte, habe ich Industriechemie studiert. Eigentlich wollte ich danach in einer Plastikfabrik arbeiten. Aber ich hatte kein Glück, mein Abschluss fiel genau auf das Jahr des Militärputsches unter General Humberto Castelo Branco: 1964. Der Antikommunismus war zu dieser Zeit erneut sehr stark. Alle, die auch nur im Verdacht standen, links zu sein, wurden gefeuert. Mit meinem Familiennamen hatte ich keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. So begann ich, im Geheimen für die Kommunistische Partei zu arbeiten.

Bis Sie das Land wieder verlassen mussten …

Ja, irgendwann war die Repression zu stark. 1973 musste ich erneut ins Exil, wieder nach Moskau. Wäre ich in Brasilien geblieben, würde ich jetzt wahrscheinlich nicht meine Geschichte erzählen. Der Hass gegen Kommunisten war groß. Viele Kader der Partei wurden ermordet oder gelten bis heute als verschwunden. So habe ich in Moskau meinen Doktor in Wirtschaft gemacht. In Brasilien habe ich später einen weiteren Doktortitel in Geschichte erlangt.

Sie sind Historikerin, aber auch selbst Teil der Geschichte. War das jemals ein Widerspruch für Sie?

Einige Personen meinen, ich sei voreingenommen, wenn ich über diese Themen forsche und schreibe. Ich habe in meiner Arbeit aber immer eine Distanz gewahrt. Mein Ziel war es nie, die Geschichte zu beschönigen. Als ich meine Doktorarbeit über meinen Vater verteidigte, hat das auch das Prüfungs­gremium gewürdigt.

Sie wurden zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, in Abwesenheit, während Sie sich im sowjetischen Exil aufhielten. Was wurde Ihnen vorgeworfen?

Sie nannten es „subversive Aktivitäten“. Ich wurde unter anderem wegen politischer Bildungsarbeit mit Beschäftigten des VW-Werks in São Paulo verurteilt. Was wir damals nicht wussten: Die Werksleitung arbeitete mit der Geheimpolizei zusammen und bespitzelte die Arbeiter. Viele unserer Genossen wurden verhaftet und gefoltert. Gegen mich verhängten sie die höchstmögliche Gefängnisstrafe. Das sollte ein Denkzettel für meinen Vater sein.

1979 nach einem erneuten Regierungswechsel in Brasilien kehrten Sie, wie viele andere Exi­lan­t*in­nen, erneut dorthin zurück.

Es gab eine Amnestie für Subversive, wie sie uns nannten. Das Problem: Auch die Täter des Militärregimes erhielten Amnestie. Viele ehemalige Folterer übernahmen Posten im Staatsbetrieb, obwohl sie unfassbare Gräuel­taten begangen hatten.

Heute erklären nicht wenige den Wahlsieg des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro mit der fehlenden Aufarbeitung der brasilianischen Geschichte. Wie sehen Sie das?

Das ist sicherlich ein Grund. Die Demokratisierung Brasiliens ist nur zur Hälfte erfolgt. Das Militär hat auch nach der Diktatur weiter eine wichtige Rolle gespielt. Aber es gibt noch andere Gründe für Bolsonaros Wahl, etwa den Aufstieg der extremen Rechten weltweit.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Ist die Präsidentschaft Bolsonaros, eines erklärten Antidemokraten und Bewunderers der Militärdiktatur, nicht sogar eine logische Konsequenz der brasilianischen Geschichte?

Für mich war seine Wahl nicht überraschend. Brasilien ist extrem konservativ. Die demokratischen Episoden waren kurz, der Konservatismus immer sehr stark. Wir blicken auf vier Jahrhunderte der Sklaverei zurück. Das hat die Mentalität dieser Gesellschaft geprägt, nicht nur die der Elite, sondern auch der einfachen Bevölkerung. Brasilien war das letzte Land, das die Sklaverei abgeschafft hat. Das hat sich eingebrannt. Rassistische Diskriminierung ist immer noch Alltag. Hier in Rio de Janeiro werden jeden Tag Schwarze von der Polizei ermordet, und viele klatschen Beifall. Ein guter Verbrecher sei ein toter Verbrecher, sagen sie.

Dieser Satz ist oft aus den Reihen von Bolsonaros An­hän­ge­r*in­nen zu hören. Neben Rassismus, Wissenschaftsleugnung und Homofeindlichkeit beschwören diese auch regelmäßig die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme und geißeln jede Form der Regierungskritik als kommunistisch. Warum ist der Antikommunismus für diese Leute so wichtig?

Es geht darum, jeglichen Widerstand der Bevölkerung zu unterbinden. Dissens wird als kommunistisch abgestempelt, und das ist die Rechtfertigung, ihn zu bekämpfen. Das Gespenst des Kommunismus ist ein Mittel der Gegen­mobilisierung. Und das ist nicht nur in Brasilien so, sondern für die Rechte weltweit. Das hat allerdings nichts mit der tatsächlichen Stärke der Kommunisten zu tun, denn die sind schwach.

Warum eigentlich?

Ihre Sprache ist zum Teil sektiererisch, für andere ziemlich schwer verständlich. In TV-Spots werben sie mit Hammer und Sichel für ihre Sache und schwingen große Worte dabei. Das kommt bei der einfachen Bevölkerung nicht an. Man muss die realen Probleme adressieren. Auf der anderen Seite sind weite Teile der brasilianischen Linken heute vom Reformismus ergriffen, also von der Idee, den Kapitalismus ein bisschen besser machen zu wollen. Aber die Chancen auf einen Sozialstaat nach europäischem Vorbild werden durch den Neoliberalismus immer kleiner.

Schauen wir uns nur die gegenwärtige Situation in Brasilien an: Die soziale Ungleichheit wächst wieder. Unter Lula (dem sozialdemokratischen Ex-Präsidenten bis 2011, Anm. d. Red.) war es vorübergehend ein bisschen besser geworden, aber das ist längst Vergangenheit. Die Menschen hungern jetzt wieder in diesem Land, das Elend ist groß. An der Straßenecke fragen sie dich heute nicht mehr nach Kleingeld. Sie betteln um Essen.

Solche Verhältnisse wären doch ein guter Nährboden für Revolten, oder?

Nein, das glaube ich nicht. Elend und Hunger führen nicht zu Klassenkämpfen. Die Hungrigen rennen dem hinterher, der ihnen ein Stück Brot gibt. Erst Demokratisierung und Entwicklung bringen die Arbeiter dazu, sich zu organisieren.

Sie halten also nichts von der Verelendungstheorie, die besagt: Je schlechter es den Menschen geht, desto wahrscheinlicher die Revolution.

Absolut nicht. Marxistische Theoretiker wie Lenin oder Gramsci schrieben bereits, dass für eine Mobilisierung der Bevölkerung ein Minimum an bürgerlicher Demokratie vonnöten ist. Eine Organisierung im Untergrund, während gleichzeitig eine totale Misere herrscht das funktioniert nicht.

In anderen Ländern Lateinamerikas existieren aber durchaus große Protest- und Arbeiterbewegungen. Warum tut sich gerade die brasilianische Linke so schwer?

Ihre Schwäche ist historisch. Es hat zwar immer Revolten gegeben, vor allem im Nordosten des Landes, aber sie wurden mit brutaler Gewalt im Keim erstickt. Ein Beispiel: Bis zum Verbot der Kommunistischen Partei gab es in vielen Städten Nachbarschaftskomitees. Dort wurde den An­woh­ne­r*in­nen Lesen und Schreiben beigebracht, damit sie für ihre Rechte kämpfen konnten. Zwei Jahre hat das Modell gut funktioniert, dann wurden die Komitees von der Polizei niedergeschlagen. So lief es immer ab.

Deshalb gibt es hier, im Gegensatz zu Argentinien, Uruguay oder Chile, nicht so eine große Tradition der Aufstände. Die herrschende Klasse in Brasilien hatte stets Angst vor der einfachen Bevölkerung. Wenn diese sich auf irgendeine Art zu organisieren begann, bestand die Antwort immer in Gewalt und Repression. Das ist zum Teil noch heute so. Außerdem: In Brasilien drückt die Elite dem Land ihre Ideen auf. Der derzeitige Wirtschaftsminister Paulo Guedes sagte, Kinder von Pförtnern sollten nicht an Universitäten studieren. Er will, dass Hochschulen einer Elite vorbehalten bleiben. Die Elite erklärt die sozialen Unterschiede also als natürlich gegebenes Faktum und bekämpft damit progressive Veränderungen.

Für viele Kom­mu­nis­t*in­nen war der Zusammenbruch der Sowjetunion eine große Desillusionierung. Wie war es für Sie?

Es war eine schwere Niederlage. Und ja, es wurden viele Fehler in der Sowjetunion gemacht, die wir genau analysieren müssen. Aber das macht die Grundideen des Sozialismus nicht falsch.

Frau Prestes, glauben Sie eigentlich noch an das Ende des Kapitalismus?

Das ist doch keine Glaubensfrage. Ich bin wissenschaftlich davon überzeugt, dass es irgendwann passieren wird. Marx hat in „Das Kapital“ gezeigt, dass sich die Widersprüche des Kapitalismus immer weiter verschärfen werden. Und das ist genau das, was wir gerade beobachten. Es wäre aber falsch, zu glauben, dass der Kapitalismus einfach irgendwann explodiert und sich in Luft auflöst. Es braucht eine organisierte Bewegung, die dafür sorgt. Die einzige Lösung ist es, die Produktionsmittel zu verändern. Solange das nicht passiert, wird der Kapitalismus Wege finden, um zu überleben. Wann er an sein Ende kommen wird, weiß ich nicht. Mein Vater hat immer gesagt: Wenn ein Kommunist eine Eigenschaft braucht, ist es die Geduld.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.