Nachhaltiger Tourismus in den Alpen: Aasökologie und Enkeltauglichkeit

Der Nationalpark Berchtesgaden beherbergt nicht nur eine Vielzahl von Arten. Er strahlt auch in die Region aus und fördert so sanften Tourismus.

Die Bartgeierweibchen „Wally“ (l) und „Bavaria“ (r) vor ihrer Auswilderung Foto: Peter Kneffel/dpa

BERCHTESGADEN taz | Zweimeterneunzig Spannweite gegenüberzustehen ist ganz schön beeindruckend. Auch wenn es sich nur um eine Abbildung in Lebensgröße handelt – nicht um einen der Vögel selbst. Es ist der Bartgeier, dem man hier im Berchtesgadener Land einen eigenen Themenpfad gewidmet hat. Wanderer erreichen ihn beispielsweise auf der Rundwanderung vom Klausbachhaus beim Bergsteigerdorf Ramsau aus über den Böslsteig zur Halsalm. Durch die bereitgestellten Fernrohre ist rund 800 Meter weiter die Felsnische am Knittelhorn zu sehen, in der im Juni wieder zwei junge Bartgeier ausgewildert werden sollen.

Das Projekt, das im vergangenen Jahr mit der Freilassung von Wally und Bavaria begonnen hat, ist eine der populärsten Aktionen der im Nationalpark Berchtesgaden arbeitenden Forscher:innen. Von überall auf der Welt werden die Webcams angeklickt, aber viele Interessierte machen sich auch selbst hierher auf. Teil­neh­me­r:in­nen an Nationalparksführungen hätten erzählt, sie seien nur wegen der Geierweibchen gekommen, sagt Ulrich Brendel. Er ist stellvertretender Leiter des Nationalparks und weiß, wie wichtig solche Projekte für den Artenschutz sind – aber auch für die öffentliche Wahrnehmung des Nationalparks und damit für dessen Botschaften.

Deshalb werden die Auswilderungen der großen Greifvögel weitergehen, bis es eine stabile Population gibt. Aber die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen haben längst neue Pläne: Sie wollen die Ökologie von Aas erforschen. Obzwar die Wirkung von Totholz auf verschiedene Ökotope gut erforscht ist, weiß man wenig darüber, was tote Tiere ausmachen – also etwa, ob mehr verwesende Körper mehr Arten anlocken. „Bisher haben wir Kadaver oft eingesteint“, sagt Brendel. „Künftig werden wir sie liegen lassen.“ Während der Projektphase werde man womöglich auch tierische Verkehrsopfer in den Park legen und beobachten, wie sie das Ökosystem beeinflussen.

Brendel ist Diplom-Biologe und forscht vor allem zu Adlern. Klar, dass sein Hauptinteresse der Wissenschaft gilt. „Aber ein Nationalpark hat natürlich neben der Forschung und dem Naturschutz selbst noch andere Aufgaben“, sagt er. Zum Beispiel in der Umweltbildung – dazu gehören Fachexkursionen für Expert:innen, aber auch Wanderungen und Veranstaltungen für Ein­zel­be­su­che­r:in­nen und Kinder- und Jugendprogramme.

Ulrich Brendel, stellvertretender Leiter des Nationalparks Berchtesgaden

„Bisher haben wir Kadaver oft eingesteint. Künftig werden wir sie liegen lassen.“

Bevölkerung nicht immer amused

Und nicht zuletzt hat der Nationalpark eine Partnerinitiative gestartet, die als regionales Netzwerk mit Betrieben, Organisationen und Verbänden nachhaltiges Handeln vor Ort zusammenbringen und weiterentwickeln will. „Wir strahlen auch auf die Region aus“, sagt Brendel. Deshalb arbeitet die Nationalparksverwaltung seit 2019 mit dem europäischen Umweltmanagementsystem EMAS und lässt sich auch regelmäßig von einem Prüfer attestieren, welche Fortschritte sie gemacht hat. „Das hat an manchen Stellen auch weh getan“, erinnert sich Brendel. Schließlich gehe es nicht nur um den Papier-, Wasser- und Energieverbrauch in den Büros, sondern beispielsweise auch um die Elekrifizierung der Fahrzeuge – Motorboote, Allradautos, die als E-Version in den Bergen nur begrenzt einsetzbar sind. So wurden für die For­sche­r:in­nen auch E-Bikes angeschafft. „Die Bevölkerung versteht das nicht immer“, meint Brendel. „Aber wir müssen und wollen als Nationalpark erkennbar sein.“

Eine ähnlich deutliche Fokussierung auf Nachhaltigkeit kann die Region Berchtesgaden auch nach Meinung des Zweckverbands Bergerlebnis Berchtesgaden gut gebrauchen. Denn wie die Destinationen an der Nord- und Ostsee ist sie zumindest in der Hauptsaison längst ein Beispiel des sogenannten Overtourismus. Als die Pandemiemaßnahmen Reisen ins Ausland praktisch unmöglich machten, eroberten – zusätzlich zum gut ausgebauten Übernachtungsgeschäft – Scharen auch von Tagesausflüglern die instagramtaugliche Naturkulisse um Königssee und Watzmann. Die Wanderparkplätze waren morgens um 8 Uhr voll, Blechlawinen stauten sich entlang der Zugangsstraßen, auch innerorts war teils kein Fortkommen – zumal auch die Deutsche Bahn ausgerechnet da hochwasserbedingte Baustellen zu stemmen hatte und die Anreise monatelang nur über Schienenersatzverkehr, sprich Busse, möglich war.

Ärgernis Auto

Der automobile Reiseverkehr ist nicht nur eine erhebliche Belastung für die ohnehin unter den Folgen des Klimawandels ächzende alpine Natur. Auch bei der einheimischen Bevölkerung löst er nur sehr begrenzt Begeisterung aus. Knapp 24.500 Ein­woh­ne­r:in­nen zählt das Berchtesgadener Land, zu dem neben dem Markt Berchtesgaden auch Bischofswiesen, Marktschellenberg, das Bergsteigerdorf Ramsau und Schönau am Königssee gehören, aber auch gut 2.000 touristische Betriebe.

„Die Struktur ist sehr kleinteilig, es gibt wenig große Häuser, aber viele private im Nebenerwerb“, sagt Teresa Hallinger, Abteilungsleiterin Destinationsmanagement beim Zweckverband. Gerade bei letzteren sei es schwierig, sie bei Generationswechseln im Tourismus zu halten. Beim Zweckverband wünscht man sich deshalb „Leuchtturmprojekte“, die das widerspiegeln, wie sich Berchtesgaden gerne sehen möchte: In den Broschüren heißt das „Eigenart, Berge, Kraft“. Gemeint ist ein wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Tourismus, der auch die Einheimischen mitnimmt.

Ein bisschen Druck macht man sich zusätzlich durch die Mitgliedschaft bei den Alpine Pearls, einem Zusammenschluss von derzeit 18 Gemeinden aus dem österreichischen, deutschen, italienischen und slowenischen Alpenraum, die sich einer „sanften Mobilität“ verschrieben haben und den nachhaltigen Tourismus weiter entwickeln und fördern wollen. Der hat sich gerade als „Europäischer Verbund für territoriale Kooperation EVTZ Alpine Pearls“ eine neue Struktur geschaffen, mit der die Mitglieder nun auch auf Fördermittel aus dem Europäischen Strukturfonds hoffen können.

Wie bei den meisten Gemeinden, die dem Verbund angehören, zieht es auch im Berchtesgadener Land die Jugend weg in die Städte. Das dortige Angebot zu imitieren, ist für den Zweckverband aber keine Option, sein Ziel ist es vielmehr, die Besonderheiten der Region – eben die „Eigenart“ – auszubauen und hervorzuheben.

Franz Lichtmannegger, hotelbetreiber

„Wir verkaufen einfachen Luxus, wie auf der Terrasse vor der Bergkulisse zu frühstücken“

Mühsamer Weg zu nachhaltigen Betrieben

Wie das aussehen kann, zeigen etwa das Berghotel Rehlegg und der erst Ende 2021 eröffnete Kulturhof Stanggass, die zu den Partnern des Nationalparks gehören. „Unsere Partner sollen auch Botschafter des Nationalparkgedankens sein“, sagt Brendel. Und dabei geht es nicht nur darum, dass sie Infomaterial wie die das Nationalparkprogramm oder die Broschüre zum Geierpfad anbieten: „Es geht auch um den Aufbau und Erhalt eines guten Nachhaltigkeitsnetzwerks mit ganz individuellen Ansätzen, die wie bei der Artenvielfalt ein stabiles, aber sich immer wieder wandelndes System tragen.“

“Das Rehlegg“ spreche vor allem eine Klientel von Wanderfreudigen und Vogelfreun­d:in­nen an, die nicht auf den Cent schauen müssen. „Wir verkaufen Luxus, aber einfachen Luxus, wie auf der Terrasse vor der Bergkulisse zu frühstücken“, sagt Franz Lichtmannegger, der das Hotel mit seinen 87 Zimmern gemeinsam mit seinem Bruder Hannes führt und seit 2008 Schritt für Schritt zu dem Ökohaus gemacht hat, das es heute ist. „Wir sind noch lange nicht da, wo wir hin wollen“, sagt er. Aber es gibt ein Blockheizkraftwerk, Photovoltaik – und als neue Betten gebraucht wurden, kamen die „nicht mehr aus Schweden, sondern von einer uralten regionalen Manufaktur“. Eine Herausforderung sei es gewesen, komplett „ungequältes Fleisch“ anbieten zu können. In den Bädern steht Naturkosmetik, geputzt wird mit Effektiven Mikroorganismen statt Chemie.

Der Kulturhof ist mit 24 Zimmern und 10 sogenannten Stadeln nicht einmal halb so groß, aber genauso „enkeltauglich“ angelegt, wie Betreiber Bartl Wimmer sagt. Der Begriff taucht bei Gesprächen mit Berchtesgadener Tourismus- und Wirtschaftsakteur.innen immer wieder auf. Er stammt aus der Ökobewegung der 1980er Jahre, erlebt aber im aktuellen Klimaaktivismus ein Revival – und ist einfach eine plastischere und emotionaler aufgeladene Variante von „nachhaltig“.

Die 700 Kubikmeter Bauholz – vor allem Lärche, aber auch Fichte und Tanne sowie Esche für die Böden – stammen größtenteils aus der Region, für die unterirdischen Bauelemente wurde hauptsächlich Schutt des Vorgängerhotels geschreddert und wiederverwendet, das Dämmmaterial ist recyceltes Altpapier. Auch drei Viertel der beteiligten Firmen sind im näheren Umkreis beheimatet. Ebenso nachhaltig ist der Betrieb: Geheizt wird mit Hackschnitzeln, sonstige Energie kommt aus Solarkollektoren. Vor allem greift das Konzept den Vernetzungsgedanken des Nationalparkmanagements auf: Es gibt Seminarräume für Bildungsarbeit, Werkstätten und Yogaräume, vor allem aber auf dem ganzen Gelände immer wieder Treffpunkte – nicht nur für Übernachtungsgäste, sondern auch für die Berchtesgadener:innen.

Alles dreht sich um Mobiltät

Während die beiden Betreiber daran feilen, ihre Angebote ökologisch wie sozial weiter zu verbessern, hadern sie noch mit dem Außenanschluss, sprich: der Mobilität. „Es wäre schön, einen ÖPNV zu haben, den ich auch nutzen kann“, sagt Lichtmannegger. Im Berchtesgadener Land fehle aber eine Ringverbindung. Seinen Gästen stelle er einen E-Smart zur Verfügung. Aber an den verstopften Straßen ändere die E-Mobilität natürlich nichts. Wimmers Vision ist ein e-mobiler ÖPNV mit autonom fahrenden Bussen, die aber erst einmal die teils steilen Straßen schaffen müssten. Lichtmannegger wünscht sich individuelle Fahrzeuge, „wo ich mir ein Auto rufe, bei dem ich am Ziel einfach aussteige“.

Nicht nur den beiden geht es darum, die Peripherie besser anzubinden, so dass die Parkplätze eher für die Gäste sind – und entsprechend teuer gemacht werden können. Denn das, so die Idee, könnte auch diese dazu bewegen, anders mobil zu sein als mit dem eigenen Verbrennerauto. „Das Narrativ muss sein: Ich brauche gar kein Auto, und die es brauchen, sind arme Säue“, sagt Lichtmannegger.

Das bedeutet zwar auch weniger überfahrene Bergeidechsen, Blindmäuse, Rotfüchse oder Dachse auf den Straßen – und damit weniger leichte Beute für den Aasfresser Bartgeier. Brendel: „Aber das wird nicht der entscheidende Punkt sein, der seiner Wiederansiedlung entgegensteht.“

Berchtesgaden

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