Kulturwissen­schaftlerin über Russland: „Es gibt gegenläufige Tendenzen“

Ekaterina Vassilieva glaubt nicht, dass ihre russischen Landsleute auf Netflix verzichten wollen. Ein Gespräch zum 9. Mai.

Junger Mann hält vor dem Kreml ein Blatt Papier mit Sternchen hoch. Polizist schreitet heran

Moskau, 13.März: Sternchen gegen den Krieg: Dmitry Reznikov muss 50.000 Rubel Strafe zahlen Foto: ap

taz: Frau Vassilieva, der Dichter Wladimir Majakowski hat einst apostrophiert: „Malt bei Revolutionen keine monumentalen Gemälde; sie werden die Leinwand in Fetzen reißen.“ Er hat so davor gewarnt, in Krisen voreilige Schlüsse zu ziehen. Unter Einbeziehung dessen, was Sie seit dem 24. Februar wahrgenommen haben, wo soll der Krieg enden?

Ekaterina Vassilieva: Für mich hat der Krieg spätestens 2014 begonnen, als die Krim annektiert wurde und die Auseinandersetzungen im Donbass angefangen haben. Trotzdem kam die neue Entwicklung seit dem 24. Februar überraschend, auch für Putins Unterstützer. Sie haben erste Hinweise für westliche Propaganda gehalten. Genau darin sehe ich auch die Handschrift von Putin. Er setzt gelegentlich auf grenzüberschreitende Schockereignisse.

Was verstehen Sie darunter?

Sie weichen von der Norm dermaßen ab, dass sie weltweit Fassungslosigkeit auslösen. Der Skandal ist ein wichtiges Instrument, sowohl in der Literatur als auch in der Politik, da er bei all den gravierenden, mitunter katastrophalen Folgen, die er in der Politik nach sich zieht, das kreative Potenzial des Urhebers demonstriert, der damit deutlich macht, dass er über die energetischen Ressourcen verfügt …

Sie meinen die russischen Bodenschätze?

geboren 1974 in Leningrad (St. Petersburg), lebt seit 1992 in Deutschland. Als Literaturwissenschaftlerin beschäftigt sie sich mit der russischen Kultur der Gegenwart. 2019 war sie Visiting Scholar am Jordan Center der New York University. Zuletzt arbeitete sie an einem Forschungsprojekt an der Humboldt-Universität in Berlin. Ihr Buch „Fantasie an der Macht. Literarische und politische Autorschaft im heutigen Russland“ ist 2020 im Verlag Matthes & Seitz erschienen.

Über das Gas- und Ölvorkommen hinaus. Mit energetischen Ressourcen meine ich die krea­tive Energie, die zugleich ein Zerstörungspotenzial bedeutet, wenn wir über Politik sprechen. Es ist wichtig, um zu begreifen, warum Putin trotz allem immer noch bewundert wird. Dass im Moment niemand sagen kann, wo dieser Krieg enden wird, gehört zu dieser Handschrift, die auf unvorhersehbare Wendungen des Handlungsverlaufs setzt. Man muss lernen, damit rational umzugehen, in dem man diese Politik entzaubert und ihr damit auch den Stachel nimmt. Dann wird man darauf angemessen reagieren können.

Putin wird nicht auf die Ukraine zugehen. Wie muss das russische Volk nun auf die Ukrai­ne­r:In­nen zugehen?

Es gibt seit sowjetischer Zeit dieses ideologische Klischee, das Russen und Ukrainer als Brüdervölker definiert. Damit wollte man auch jetzt diesen Krieg legitimieren: Wenn Russen und Ukrainer einander so nahestehen, wozu dann Grenzen? Paradoxerweise kann sich genau dieses Klischee, von vielen Russen verinnerlicht, gegen den Krieg wenden. Denn es ist absolut unvorstellbar, im Krieg mit den Brüdern zu stehen. Ich kenne viele Russen, in Berlin und anderswo, die ukrainischen Flüchtlingen helfen, gerade, weil sie die gemeinsame Sprache sprechen. Und es gibt auch sonst viel Unterstützung, auch im Privaten. Die Menschen sind dafür dankbar. Auf dieser Ebene habe ich noch nie Spannungen erlebt. Es gibt keinen ethnischen Konflikt, der Russen und Ukrainer trennen würde.

Und auf politischer Ebene?

Politisch ist es natürlich schwierig, weil es wird jetzt von den Russen erwartet, dass sie gegen den Krieg protestieren.

Man hört seit Längerem nichts mehr davon, weil die Zensur solche Proteste ausblendet.

Zuerst mal das und zum anderen sind die Strafmaßnahmen dagegen sehr hart. Es gab aber, trotz aller Repressalien, seit Kriegsbeginn relativ viele Proteste, die sprechen für sich.

In Ihrem Buch „Fantasie an der Macht“ ziehen Sie Schlüsse zwischen der autokratischen Politik von Putin, den ihr zugrunde liegenden Ideologien und vergleichen diese wiederum mit Tendenzen in der russischen Gegenwartsliteratur. Sie schreiben, dass sich russische Politik „poetologisiert“ habe und staatstragende Literatur umgekehrt wiederum im Dienst der Politik stehe. Was steht dahinter?

Diese Kunst hat sich immer auch in den Dienst von Macht gestellt. Autonome Kunst sowie „bürokratische“ Politik sind dagegen relativ jung. Das beginnt erst mit dem Zeitalter der Aufklärung. Natürlich haben die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts die „Ästhetisierung von Politik“, mit Walter Benjamin gesprochen, mithilfe der Medien als Instrument der Massenbeeinflussung auf ein neues Niveau gebracht.

Sie sprechen mit Boris Groys vom „Gesamtkunstwerk Stalin“. Warum?

In seinem Buch wird die These vertreten, dass Stalin mit seinem Land und Leuten genauso umgegangen ist wie ein bildender Künstler mit seinem Material, das er komplett seinem Gestaltungswillen unterwirft. Zu seiner Zeit hatten Künstler dem Herrscher gar nichts zu sagen, diese Beeinflussung lief nur in eine Richtung, deshalb wird Stalin von Groys als der „größte Künstler seiner Zeit“ bezeichnet, denn die anderen Künstler haben von Stalin exakte Anordnungen bekommen, welche Werke sie zu schaffen haben. In der spätsowjetischen Zeit hat sich das Verhältnis zwischen Künstler und Herrscher gelockert.

Vor allem entstand die inoffizielle Kunstszene, die von der politischen Macht unabhängig war. Nach der Perestroika sind Künstler und Politiker, so scheint es, zu gleichwertigen Partnern geworden und sofort in ein offenes Konkurrenzverhältnis getreten. Denn unter den neuen Bedingungen des sich entwickelnden Parlamentarismus in den 1990er Jahren ging es darum, den Bürger mithilfe von bestimmten rhetorischen Mitteln zu überzeugen, genau das zu machen, was die Schriftsteller auch tun. Dann konnten Politiker von Schriftstellern viel lernen. Aber auch die Schriftsteller wollten ihre neu gewonnene Macht sozusagen nicht einfach so abgeben.

Was bedeutet eigentlich „der Westen“ aus russischer Sicht?

Ich würde sagen, dass der Westen aus russischer Sicht auch heterogen und mit verschiedenen, zum Teil polaren Bedeutungen besetzt ist. Vom Westen ging die Aufklärung aus. Der Ort, an dem man Menschenrechte und Humanismus zur neuen (Zivil-)Religion gemacht hat. Zumindest wird das so gesehen, vielleicht sogar idealisiert. Es gibt in Russland immer noch ein möglicherweise naives Bildungsideal aus Sowjetzeiten, dass jeder, egal welcher sozialen Schicht man angehört, an der Kunst und Kultur partizipieren soll.

Und deswegen glaube ich, dass ein differenziertes Bild über den Westen durchaus verbreitet ist, auch über die Intellektuellen hinaus. Aber es gibt andererseits den „Wilden Westen“, wo angeblich das Recht des Stärkeren gilt und der uneingeschränkte Wettbewerb herrscht.

Bereits in den 1990ern wurde in Russland das Narrativ geprägt, dass man zu spät in die Marktwirtschaft eingestiegen sei und nur als Verlierer aus dem globalen Wettbewerb herausgehen könne. Dass der westliche Humanismus nur ein Aushängeschild sei, das dies die wahre Natur des Westens verbergen und in den wirtschaftlich schwächeren Ländern unerfüllbare Sehnsüchte erzeugen soll, um sie zu unterdrücken und daraus Profit zu schlagen. So wurde der Boden dafür bereitet, dass Russland seine vermeintlich ursprünglichen Werte aufrechterhalten soll, statt mit dem Westen auf seinem Feld zu konkurrieren, wo Russland angeblich ohnehin keine Chance habe.

Wie hat sich das Bild gewandelt?

Dieser Gedanke wurde unter Putin zementiert und gehört nun zur Staatsideologie. Das bedeutet nicht, dass alle Russen daran glauben. Bis zuletzt war der kulturelle und wissenschaftliche Austausch zwischen Russland und dem Westen möglich. Es ist das, was ich in meinem Buch als „Freiräume“ innerhalb des autokratischen Systems bezeichnet habe. In der aktuellen Situation werden solche Freiräume zunehmend geschlossen. Aber die Erinnerung daran kann nicht von einem Tag auf den anderen getilgt werden. Der Westen, allen voran die USA, ist wichtigste Bezugsquelle von Unterhaltungskultur. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Rus­s:In­nen auf Netflix verzichten würden. Das ist ein sehr wichtiger Teil der Selbstidentifikation, der alltäglichen Kultur.

Der russische Schriftsteller Sachar Prilepin schloss sich den Separatisten in Donezk an. Was bedeutet es, wenn Kultur direkt am Krieg beteiligt ist?

Die Teilnahme von Künstlern verschafft dem Krieg zusätzliche Legitimität, deshalb ist es für das Regime enorm wichtig, Unterstützung aus Kulturkreisen zu bekommen. Es gibt aber durchaus gegenläufige Tendenzen. Schon in den ersten Kriegstagen haben mehrere Tausend Kulturschaffende einen offenen Protestbrief unterschrieben, der ihre Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck gebracht hat. Er musste unter dem Druck der Behörden aus den öffentlichen Bereichen entfernt werden. Man darf schließlich nicht gegen einen Krieg protestieren, den es aus offizieller Sicht gar nicht gibt. Prominente Schriftsteller wie Vladimir Sorokin und Viktor Jerofejew haben sich dagegen ausgesprochen. Allerdings befinden sich die meisten von ihnen im Ausland.

Was bedeutet dieser kulturelle Braindrain für das Land?

Er bedeutet zunächst, dass nur noch die bleiben, die dem Regime treu sind. Vielleicht war das auch eine Idee dahinter, dass diejenigen, die den Krieg verurteilen, dann ohnehin ausreisen. Das könnte auch bedeuten, dass jetzt im Westen ein neues russisches Kulturleben erblüht. Dass es dann in der Diaspora wieder wird, wie nach der russischen Revolution in den 1920er Jahren.

Heute, am 9. Mai, wird in Russland der Sieg über Nazideutschland gefeiert. Der Feiertag ist Ausdruck von Patrio­tis­mus. Was wird dieses Jahr geschehen?

Zu Sowjetzeiten war der 9. Mai eine offizielle Angelegenheit und die vom Staat getragenen Feierlichkeiten erschienen den Betroffenen, wie meiner Großmutter, die den Zweiten Weltkrieg selbst erlebt hatten, dem Anlass kaum angemessen. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die alljährlichen Militärparaden zu Sowjetzeiten nicht am 9. Mai, sondern am 7. November, dem Tag der Revolution stattgefunden haben. Es gab zu runden Jubiläen auch am 9. Mai eine Militärparade, aber nicht regelmäßig. Nach der Perestroika wurde der 7. November nicht mehr auf diese Weise gefeiert. Und in den 1990er Jahren wurden die Militärparaden auf dem Roten Platz ganz abgeschafft.

Erst seit 1995, dem 50. Siegesjubiläum, wurden sie dann im jährlichen Rhythmus wieder am 9. Mai aufgenommen, und zwar nicht auf dem Roten Platz, sondern auf dem Poklonnaja-Hügel außerhalb des Zentrums. Dort ließ man eine neue Gedenkstätte errichten, um an die nationale Tragödie zu erinnern. Bis 2007 hat man dort Militärparaden durchgeführt. Danach gab es auch Versuche „von unten“, dem Siegestag ein menschlicheres Antlitz zu verleihen: 2012 wurde die Initiative „unsterbliches Regiment“ ins Leben gerufen. Sie hat die Bürger dazu aufgerufen, am 9. Mai einfach auf die Straße zu gehen, mit Fotografien ihrer Angehörigen, die am Krieg teilgenommen hatten. So sollte auch die private, vom Staat unabhängige Erinnerung zelebriert werden.

Doch einige Jahre darauf marschierte Putin wiederum in ihren Reihen mit einem Porträt seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte. Damit nahm er dem Event seinen alternativen Charakter und besiegelte seine ideologische Vereinnahmung. Seitdem gehört er zu den offiziellen Feierlichkeiten. Das ist ein Beispiel dafür, was ich als „Fantasien der Macht“ bezeichne.

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