EU-Abgeordnete zu Leben mit Behinderung: „Für Sichtbarkeit kämpfen“

Am Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen kämpft Katrin Langensiepen für Sichtbarkeit. Es brauche strukturelle Veränderung.

Filmstill aus dem spanischen Film "Me Too"

Szene aus dem spanischen Film „Me Too“ (2009) Foto: Olive Films/Everett Collection/imago

taz: Frau Langensiepen, am Dienstag stimmte das Europaparlament einer Reform des Wahlrechts in der Europäischen Union zu. Was wurde für Menschen mit Behinderung erreicht?

Katrin Langensiepen: In dieser Wahlrechtsreform wurden Menschen mit Behinderung unabhängig von ihrer Geschäftsfähigkeit in den Wahlkreis aufgenommen. Es wissen sehr wenige, dass Personen mit rechtlicher Betreuung bisher ausgeschlossen wurden, 400.000 Menschen bei der letzten Europawahl. Die Betroffenen können dann bei der nächsten Europawahl, wenn sich das dann weiterentwickelt, auch teilnehmen. In Deutschland ist das kurz vor der Europawahl 2019 über das Verfassungsgericht gegangen.

Wählen ist ein elementares Grundrecht. Warum hat es so lange gedauert, bis auch Menschen mit rechtlicher Betreuung abstimmen dürfen?

Bisher hat man gesagt, das sei mitgliedstaatenrelevant, und so eine EU-Wahlreform macht man ja auch nicht jeden Tag. Ich fand die Begründung in der Vergangenheit aber nicht schlüssig. Wir reden über Wahlrecht, nicht über Wahlpflicht. Genauso gut wie beim Wahlrecht für junge Menschen heißt es, „die haben ja keine Ahnung“. Die Debatte ist ähnlich. Ich denke, jeder, der irgendwie politisch aktiv ist oder sich politisch interessiert, soll natürlich auch ein Wahlrecht haben. Das klingt sehr simpel. Der Widerstand war aber immer groß.

42, Seit der Europawahl 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments als Teil der Fraktion Die Grünen/EFA. Sie ist die einzige weibliche Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung.

Wer hat sich quergestellt?

Damals war es massiver Widerstand der SPD und CDU. Und wir als Opposition haben es als Menschenrechtsverletzung eingeklagt. Mit der Linken, mit der FDP und als Grüne.

Generell gibt es ein Problem der fehlenden Sichtbarkeit von Behinderung in der Gesellschaft. Es scheint jedoch in letzer Zeit häufiger thematsiert zu werden. Täuscht dieser Eindruck?

Ich glaube, das ist eine Bubble, in der wir sind und in der es zaghaft lauter wird. Aber fragen Sie mal auf der Straße: „Was ist Ableismus?“ Finde ich auch nicht wirklich barrierefrei, den Begriff, aber das ist der offizielle Begriff aus der Sozialwissenschaft. Mit dem Finger auf eine Person zu zeigen, über sie zu lachen ist moralisch verwerflich, das ist das eine. Ableism, Abelismus, strukturelle Diskriminierung ist das andere.

Ein Beispiel: Vorauszusetzen, dass junge Menschen mit Behinderung automatisch in eine Werkstatt gehen. Was da passiert, interessiert keinen, ob da Mindestlohn gezahlt wird, keine Ahnung. Da wünsche ich mir mehr Interesse von der Gewerkschaft. Gerade wird in der EU Mindestlohn verhandelt, den sollten aus meiner Sicht natürlich auch Menschen mit Behinderung in Werkstätten bekommen. Man trifft auf massiven Widerstand. Man stellt dadurch ein System in Frage. Das beißt sich mit der Sichtweise auf behinderte Menschen, wo sie teilhaben dürfen, welche Räume man ihnen zugesteht. Das ist Ableismus.

Sie sprechen sich für ein Ende von Behindertenwerkstätten in ihrer gegenwärtigen Form aus…

Ja, ich möchte einen Ausstiegsplan. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die wir ratifiziert haben, sagt klar: Es muss ein Wunsch- und Wahlrecht bestehen. Sorry, aber wenn ich die Wahl habe zwischen „Ich bleibe arbeitslos“ oder „Ich gehe in die Werkstatt und arbeite für einen Euro die Stunde“, ist das kein Wahlrecht. Wir müssen uns endlich auf den Weg machen und sagen, bis Jahreszahl X. Wie beim Atomausstieg.

Das ist nicht nur meine Aufgabe, das zu tun, sondern das ist Aufgabe der Institutionen und Einrichtungen, die sehr genau wissen, dass der Wandel bevorsteht. Auf EU-Ebene haben wir eine klare Beschlusslage. Dieser 5. Mai macht es deutlich und ist eine Möglichkeit, um die Situation von behinderten Menschen in der EU auch noch einmal klar darzustellen.

Eine der Forderungen auf EU-Ebene ist die nach mehr Inklusion auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt die Werkstätten, in denen die Menschen für einen Hungerlohn arbeiten. Kaum jemand steigt danach in den Arbeitsalltag ein, dabei ist die Wiedereingliederung im Gesetz verankert. Wie kann das sein?

Die Werkstätten sind ein gut geöltes System. Es ist schon so verfestigt und Bestandteil seit den 60er Jahren, dass man daran ungern rütteln möchte. Da haben wir viele Profiteure. Ich finde es erschreckend, dass wir, Deutschland, in der EU, das Land mit den meisten Werkstatt-Tätigen sind. Und dass diese Menschen aus diesem System kaum rauskommen. Es braucht nicht seitens der ArbeitgeberInnen nur „Oh, ich habe ja den 50-jährigen, der hatte einen Herzinfarkt, hat einen Ausweis, ich habe die Quote erfüllt“. Wo sind denn die jungen Menschen mit Behinderung? Es heißt oft, wir hätten kein anderes System, also müssen wir es beibehalten.

Wir Abgeordnete müssen genau schauen, wohin EU-Geld geht. Ah, das ist der tolle Öko-Hof. Aber da arbeiten Menschen mit Behinderung aus Werkstätten. Ist vielleicht ökologisch cool, aber nicht UN-BRK-konform. Wir reden über Machtverteilung. Man dachte, beim Thema Inklusion bleibt einem das Thema Arbeit erspart, aber man kommt nicht drum herum. Es ist das große Ganze, es geht um Familie, um sexuelle Selbstbestimmung, Mobilität.

Welche Plattformen gibt es, um diese Thematiken sichtbar zu machen?

Wir haben ein Konglomerat aus Angeboten an Informationen. Die Plattformen müssen aber barrierefrei sein. Menschen mit Behinderung müssen ein Recht auf Internet in ihren Einrichtungen haben. Die Menschen haben oft noch nicht mal Internetzugang. Das ist denen verboten. Das entscheidet der Träger, die Heimleitung. Du brauchst kein Handy, damit machst du nur Blödsinn. Es wird also über die Person entschieden. Hier brauchen wir unangekündigte Kontrollen in diesen Einrichtungen.

Gehört das auch zur Strategie, die auf EU Ebene beschlossen wurde?

Die neue EU-Strategie fordert tatsächlich, dass wir von Institutionen wegkommen und stattdessen selbständiges Leben und Assistenz fördern. Umsetzen müssen es dann die Mitgliedstaaten.

Welche europäischen Länder stechen bei der Inklusion denn positiv hervor?

Wir haben nicht das europäische Paradebeispiel, nicht auf dem Arbeitsmarkt und nicht in der Beschulung. Ich glaube, Spanien ist im Bereich Arbeit relativ progressiv. Dort arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen in Sozialunternehmen zusammen und bekommen auch den Mindestlohn. Deutschland wird immer wieder abgewatscht dafür. Und natürlich, wenn ich mit Menschen mit Behinderung zur Schule gehe, arbeite, lebe, werden die Berührungsängste weniger. Solange wir uns nicht kennen, können wir nicht voneinander lernen. Und das werden wir nicht ändern, indem wir an unseren Einrichtungen festhalten.

Auf EU-Ebene existiert immer noch kein Rechtsrahmen gegen Diskriminierung von Menschen mit Behinderung außerhalb der Arbeitswelt. Das wird seit 12 Jahren vom Rat blockiert. Wie argumentieren die Gegner einer solchen Regelung?

Wir haben schon alles. Brauchen wir nicht. Also, so, wie ich das jetzt gerade platt darstelle, wird mir das auch platt so gesagt. Brauchen wir nicht.

Und wie ist die Situation in Deutschland?

Ich sag mal, für viele Entscheidungsträger existieren die UNBRK und Anti-Diskriminierungs Richtlinien nicht. Das ist für viele lästig, dieser Mindestlohn in WfbM, weil das Strukturveränderungen bedeuten würde. Ein Argument der Befürworter: „Wenn wir einen Mindestlohn haben, gefährden wir das System“. Dann ruft die Lobby an und sorgt dafür, dass das nicht durchkommt. So läuft es.

Und die Anti-Diskriminierungs Richtlinie wird von vielen Ländern blockiert. Wir reden ja auch über die queere Community in dem Fall. Aber man sieht die Notwendigkeit nicht, dabei hätte man dann Klagemöglichkeiten, dass hätte Folgen. Inklusion ist kein Kindergeburtstag. Da reden wir über Geld, über Strukturveränderungen, Machtverschiebung. All das gehört für mich zu Ableism dazu.

Sie beziehen die queere Community mit ein. Wie steht es um Intersektionalität? Sie fordern gemeinsam eine Anti-Diskriminierungshaltung. Wie kann man sich solidarisieren, um Reformen auf dieser Ebene besser durchzubringen?

Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt, den Sie ansprechen, die Intersektionalität. Jeder und jede kämpft für die eigenen Bereiche, weil sie sagen: Wir haben genug zu tun. Was ich aus Sicht der ehrenamtlichen KämpferInnen nachvollziehen kann. Aber mein Appell für den 5. Mai ist: Wir müssen uns zusammentun, um gegen Diskriminierung und Ausgrenzung und für Sichtbarkeit zu kämpfen.

Wir waren schon mal weiter. In den Siebzigern hatten wir die Black-Power-Bewegung. Wir hatten die queere Bewegung und daraufhin auch die Krüppelbewegung. Man fordert nichts Neues. Abschaffung der Werkstätten hat in den 80er Jahren die Krüppelbewegung schon gefordert. Aber das werden wir nicht schaffen, wenn jeder nur sein eigenes Süppchen kocht.

Diese Bewegungen haben ihren Ursprung in den USA. Das bringt viele neue Anglizismen mit sich. Was verändert sich mit dem Denken, wenn neue Bezeichnungen kommen und sich zum Beispiel Cripples empowern wollen und den Begriff aneignen?

Es gibt ja immer noch behinderte Menschen aus der Zeit, die sich ganz klar als Krüppel bezeichnen. Die definieren sich darüber. Was Definition anbelangt, macht es jeder anders. Manche sagen, ich bin ein Mensch mit Behinderung. Da gibt es Feinheiten. Was ich ganz schlimm finde, ist Mensch mit Handicap. Wir sind nicht auf dem Golfplatz. Ich frage: Wie definierst du dich? Und wenn die Person sagt, ich definiere mich so oder so, habe ich das zu akzeptieren, und dann ist das für mich völlig in Ordnung. Meine Definition ist behinderte Frau.

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