Ausgehen und rumstehen von Marielle Kreienborg
: Lebendigkeit gilt es zu vermeiden

Foto: privat

Ein Besuch des Cinema Aperitivo im Babylon-Kino: Italienische Filme im Original schauen und hinterher bei einem gemeinsamen Aperitif darüber reden. Klingt erst mal nicht schlecht. Meiner inneren Faulheit und wohl auch einer Prise Sozialscham (der, irgendwo allein aufzutauchen) ist es geschuldet, dass zehn Jahre vergehen, ehe ich das Angebot zum ersten Mal wahrnehme. Pasolini hat mich gelockt, das Babylon widmet ihm eine Reihe zum Hundertsten. Die eigentliche Show beginnt aber erst hinterher: das zwischenmenschliche Theater, das kleine wie große Unzulänglichkeiten offenbart, ist und bleibt meine liebste Vorführung.

Gleich zu Beginn teilen die Prä­sen­ta­to­r*in­nen uns mit, dass wenig Zeit bleibe und wir kooperieren müssten. Die Einführung, die anmutet wie ein ausgedrucktes Wikipedia-Zitat, dürfe unter keinen Umständen unterbrochen werden. Man bitte davon abzusehen, Spontanes zu sagen oder die Hand zu heben: „Fragen bitte erst hinterher“, da diejenigen, die alles minutiös getaktet und auf Effizienz getrimmt hätten, durch intuitives Agieren aus dem Tritt gerieten. Jede Lebendigkeit, die dem einstudierten Ablaufplan zuwiderlaufe, sei zu vermeiden. Intuitive, sich aus dem Gespräch ergebende Gedanken seien zu unterdrücken. Andernfalls ergehe es einem wie dem Kurator der Filmreihe, der eins auf die Rübe kriegt, jedes Mal, wenn er wagt, in die Übersetzung des zuvor auf Italienisch Gesagten eigene Überlegungen einfließen zu lassen: „Ich sage das“, zischt es vom Sofa. „Das ist mein Part. Wenn du jetzt anfängst, eigene Sachen zu sagen, kommen wir völlig durcheinander.“ Das Gespräch über einen Film, der nach alternativen Daseinsformen fragt, untersteht folgendem Leitfaden: Ich sage dies, du sagst das und lass uns bloß nichts dem Zufall überlassen. „Ob der Schrei am Ende als Befreiungsschrei gewertet werden kann?“, fragt jemand, der die Hoffnung auf Dialog noch nicht aufgegeben hat. Darüber lasse sich bloß spekulieren, das wisse einzig Pasolini, und folglich lohne es nicht, an dieser Stelle zu investigieren. Die Hälfte der Zeit geht nämlich ohnehin dafür drauf, uns auf all die spannenden Sujets hinzuweisen, über die wir heute leider nicht sprechen können. Auch auf die Frage, ob, was der Familie fehle, letztlich Liebe sei, lässt sich keiner der Verantwortlichen ein. Lediglich lässt man uns wissen, dass es falsch sei, bei Pasolini von Liebe zu sprechen. Um Sexualität würde es gehen, um Eros, aber auch da hänge noch einmal „ein ganz eigener hermeneutischer Schwanz“ dran, dem man an dieser Stelle wirklich nicht nachspüren könnte. Ich lache über meine Naivität.

Um Sexualität würde es gehen, um Eros, aber auch da hänge noch einmal „ein ganz eigener hermeneutischer Schwanz“ dran

Einige Teil­neh­me­r*in­nen hingegen haben alles richtig gemacht, sind allein des Essens halber da, fallen auch während des Gesprächs immer wieder über die übriggebliebenen Focaccia her, spülen sie runter, mit dem dritten Spritz. Andere, wie ein Professor um die sechzig, mit entrücktem Blick und wild vom Kopf abstehenden Haaren, sind gekommen, um zu belehren, den übrigen Unwissenden zu erklären, was sie nicht verstehen. Dazu wird eine Passage aus dem kleinen, mitgebrachten Helferlein zitiert: „Pier Paolo Pasolini – Eine Biographie“. Doch noch während dem spröden Mund die Worte Marx und Besitz entweichen, unterbrechen die merklich zusammenzuckenden Präsentator*innen, rufen „Stopp, Stopp, Stopp“ und wiederholen, ein weiteres Mal, dass für marxistische Diskussionen an dieser Stelle wirklich überhaupt keine Zeit sei. Das führe zu weit, wie auch Diskussionen über Freud, de Saussure, die politische Ökonomie oder Pasolinis Vaterverhältnis zu weit führen würden. Überhaupt: Was taugten Diskussionen? Unsere Aufgabe bestünde in wohlwollendem Zuhören und anerkennendem Schweigen. Hinterher dankte man uns dann für dieses wirklich spannende, äußert engagierte, zu jedem Zeitpunkt lebensnahe, immens bereichernde Gespräch.