Hartz-IV-Sanktionen: Vernarrt ins Bestrafen

Die Ampel-Koalition setzt Hartz-IV-Sanktionen weitestgehend aus. Das reicht aus, um Panik vor vermeintlich Arbeitsunwilligen auszulösen.

Szene aus dem Film "Danny, der Champion" von 1989 zeigt zwei Jungen im Anblick des Rohrstocks eines Lehrers

„Fördern und Fordern“ lautet etwas euphemistisch das Prinzip des Hartz-IV-Systems Foto: Alamy/mauritius images

Auf meiner Schule gab es Kinder, die sich nicht für Geschichte interessierten. Nicht, weil sie sich grundsätzlich nicht dafür interessierten. Sie konnten schlicht nichts mit dem faden Unterricht eines autoritären Geschichtslehrers anfangen. Also sprachen sie im Unterricht über andere Dinge, und nachmittags erledigten sie anderes als Hausaufgaben. Der Lehrer ärgerte sich und sanktionierte sie. Er bestellte sie regelmäßig zum Nachsitzen. Warum erzähle ich das?

Weil es diese Woche wieder mal um Hartz-IV-Sanktionen geht. Der Bundestag hat am Donnerstag beschlossen, diese bis Mitte 2023 größtenteils auszusetzen. Nur bei wiederholten Versäumnissen sollen Kürzungen von 10 Prozent möglich sein. Das versteht die Ampelkoalition als Übergangslösung zum angekündigten Bürgergeld, für das Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Sommer einen Gesetzentwurf vorlegen will. 2019 hatte das Bundesverfassungsgericht die Praxis, nach der Leistungen komplett gestrichen werden konnten, für verfassungswidrig erklärt, Kürzungen von höchstens 30 Prozent seien angemessen.

Und schon kursieren Horrorgeschichten: „Ohne Sanktionen tanzen uns Hartz-IV-Empfänger auf dem Kopf herum“, zitiert die Süddeutsche Zeitung eine Jobberaterin, die anonym bleibt und deshalb „ihre Worte weniger vorsichtig“ wähle, „als es ein Politiker tun würde“. Einen Kommentar überschreibt dieselbe Zeitung mit „Nur noch fördern, nichts mehr fordern“. Die FAZ findet diese Entwicklung auch nicht so gut und schreibt abschätzig von „arbeitsunwilligen Hartz-IV-Beziehern“. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder kommen und gehen kann, wann er will, und trotzdem eine mickrige finanzielle Basis erhält, die ohnehin kaum für ein würdevolles Leben reicht?

Ärger über Selbstbetrug

Der Vergleich zwischen Hartz-IV-­Be­zie­he­r:in­nen und Schulkindern mag nun irritieren, entspricht aber einer Realität, in der Erwachsene wie Kinder behandelt werden. Beim Nachsitzen mussten die Kinder sinnlos Seiten aus dem Schulbuch abschreiben. Der Lehrer lächelte und sagte zugewandt: „Ich mache das nicht, um euch zu ärgern. Ich mache das für euch, damit ihr lernt, was Verantwortung ist.“ Mit­ar­bei­te­r:in­nen des Jobcenters lassen sich anonym zitieren, dass sie es bei einer „Minderheit Unfreiwilliger“ für notwendig hielten, notfalls Druck auszuüben, um diese Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen.

Dabei ist die Haltung, dass manche zu ihrem Glück gezwungen werden müssten, gerade in einer Gesellschaft bemerkenswert, die sich am wirtschaftsliberalen Prinzip orientiert, wonach jeder Mensch von ganz allein nach der Maximierung seines Nutzens strebe und dies zum Vorteil aller geschehe. Vermutlich ist diese Gesellschaft so vernarrt in das Bestrafen, weil das mit dem Wohl aller überhaupt nicht hinhaut. Ihren Ärger über den Selbstbetrug lässt sie dann an jenen aus, die der Beweis dafür sind.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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