Überlebende Bücher

Büchern, die die Nazis verbrannt haben, gibt sie ihre Würde zurück: In Kiel zeigt die Fotokünstlerin Annette Kelm Buchcover streng seriell und zugleich als ganz individuelle Kunstwerke

Akribisch im Titel dokumentiert: Annette Kelms „Kurt Tucholsky, Lerne lachen ohne zu weinen, 1931, Ernst Rowohlt Verlag, Berlin, Fotografie: Wellington Film Manufacture“ Foto: Courtesy the artist and KÖNIG Galerie and Andrew Kreps Gallery, New York

Von Frank Keil

Das ist alles? Mehr ist nicht? Das mag man ein wenig verwundert bis irritiert denken, wenn man das Erdgeschoss der Kieler Kunsthalle betritt und sich umschaut: Fotos von Buchcovern drapieren die geweißten Wände des hohen saalhaften Raums. Grafisch sehr schön, weil sehr exakt und streng gehängt ist alles. Also fängt man an zu schauen, geht von Rahmen-Ensemble zu Rahmen-Ensemble, denn die Bilder sind nicht in einer Linie auf immer gleicher Höhe gehängt, sondern sind zu wechselnden Vierer- und Fünfer-Gruppen geordnet. So wird man langsam schauend warm.

Es sind nicht irgendwelche Buchcover, die hier ausgestellt sind. Sie sind aus einer anderen, länger zurückliegenden Zeit, das erfasst man intuitiv, ohne Vorwissen: So sehen Bücher heute nicht mehr aus, so eigensinnig, so kunstvoll gestaltet, und allein dass man anfängt, vergleichend zu überlegen, wie Buchcover heutzutage wirken, was anders ist und wie man sich dazu verhält, also wie man es bewertet, lässt einen ins Nachdenken stolpern.

Es sind zudem nicht die Cover per se ausgestellt, erst recht nicht die dahinter stehenden Bücher, dass man sich vorstellen könnte, jetzt gleich in ihnen zu blättern und dann zu lesen, wenigstens theoretisch. Es sind vielmehr Fotografien von ihnen zu sehen, je ein Bild von einem Buch, Buch für Buch, Wand für Wand. Stets im Format 52 mal 70 Zentimeter gehalten, frontal fotografiert, ebenso strikt ausgeleuchtet, so dass je nach Seitenumfang, also Dicke des Buches einmal feiner, einmal kräftigerer Schlagschatten fällt. Manche Titel kennt man sofort, hat sie vielleicht vor längerer Zeit gelesen oder hatte es immer mal vor und kam dann doch nicht dazu: „Berlin Alexanderplatz“ von Franz Döblin etwa oder „Amerika“ von Franz Kafka. Es gibt diese Bücher, die man gelesen haben sollte.

Es sind noch dazu ausschließlich Erstausgaben abgebildet, also keine Reprints oder Wiederauflagen, Jahrzehnte später erneut erhältlich. Und damit bekommen die gezeigten Werke etwas von einem Original, obwohl es das beim Medium ‚gedrucktes Buch‘ strenggenommen ja nicht geben kann. Andererseits kennt ein jeder von uns diesen auratischen Moment, wenn man ein Buch, das etwa für einen mal, lebensgeschichtlich gesehen, sehr wichtig gewesen war, wieder in den Händen hält und es etwas Einmaliges hat, auch wenn man weiß, dass es diesen Titel zig-tausendfach gab und gibt.

Erich Weinerts Lyrikband „Affentheater“ zeigt sich im offenen Dada-Style. Für Walter Benjamins Klassiker „Einbahnstraße“ hat man Einbahnstraßen-Schilder hintereinander montiert

Annette Kelm, Fotokünstlerin und -dokumentaristin, erinnert uns an all die Bücher, die ab dem Januar 1933 von den nun herrschenden Nationalsozialisten als „undeutsch“, als zu vernichten definiert wurden: Romane und Lyrik, Erzählungen und Kinderbücher, Pamphlete und Erbauungsschriften, erfasst auf den bald grassierenden schwarzen Listen und konkret der Liste zu verbrennender Bücher vom 10. Mai 1933 am Berliner Opernplatz. Eines der wichtigen Anliegen Kelms, nämlich das einzelne Werk der Vernichtung in der Masse zu entziehen, vermittelt sich, wenn man auf Youtube dazu jenen kurzen historischen Film-Clip sieht, der zeigt, wie die verfemten Bücher von den SA-Männern und ihren studentischen Helfern gleich stapel- und bündelweise ins Feuer geworfen werden – ohne Ansehen des jeweiligen Werkes also.

So seriell die Gesamtansicht im Ausstellungsraum auch wirkt, so individuell entfaltet sich das einzelne Werk, wenn man es für sich herauslöst und betrachtet: „Hetzjagd durch die Zeit“ von Journalismus-Legende Egon Erwin Kisch etwa ziert ein schön gezeichneter Strudel in Rot und Gelb. Für Clara Zetkins „Erinnerungen an Lenin“ reckt dieser als fotografische Abbildung kantig sein Kinn vor. Für den Roman „Liebe“, der heute nur noch wenig bekannten Feministin Helene Stöcker, gehen dessen fünf Buchstaben typografisch fein austariert eine Treppe hinunter – es blieb übrigens ihr einziger Roman.

Erich Weinerts Lyrikband „Affentheater“ wiederum zeigt sich im offenen Dada-Style, für Walter Benjamins heutigen Klassiker „Einbahnstraße“ hat man sehr überzeugend Einbahnstraßen-Schilder hintereinander montiert, wobei interessanterweise Benjamins Name kaum zu lesen ist. Längst ist man auch neugierig geworden und will wissen, was es etwa mit dem Buch „Dachau – eine Chronik“ auf sich hat, dessen Umschlag ein Foto von Häftlingen hinter Stacheldraht zeigt. Und so zückt man womöglich vor Ort sein Smartphone: Das Buch beruht auf den sechs Monaten, die der Schriftsteller und Redakteur Julius Zerfaß gleich 1933 in Dachau in Haft saß. Geschrieben hat er es unter dem Pseudonym Walter Hornung, auch wenn er da schon im Exil in der Schweiz lebte. So entfaltet sich nach und nach das Wissen, was man alles nicht weiß über die Autoren und Autorinnen, die in der NS-Zeit auf je unterschiedliche Weise bedrängt und dann aufs massivste verfolgt wurden.

Oskar Maria Grafs „Notizbuch des Provinzschriftstellers“, Zinnen Verlag 1932 Foto: Courtesy the artist and KÖNIG Galerie and Andrew Kreps Gallery, New York

Angefangen hat Kelm ihr Projekt 2019 mit einer Ausstellung im Münchner NS-Dokumentationszentrum mit 50 Werken. In Kiel sind nun 100 zu sehen. Kelm verweigert dabei weitere Auskünfte, etwa, wo sie die Bücher gefunden hat; ob etwa antiquarisch gekauft, aus Bibliotheken ausgeliehen oder vielleicht auch überreicht bekommen. So bleibt offen, welche Überlebensgeschichte das jeweilige Exemplar womöglich zu erzählen hätte, und das mindert das Pathos, dass man ihnen als Einzelexemplar gerne anheften möchte.

Und doch gibt es diese kleinen Spuren des Einzigartigen, die man eben auch gut gebrauchen kann: Hier und da sind mal sachte, mal kräftige Gebrauchsspuren zu entdecken. Der Umschlag ist eingerissen, eine Ecke ist abgestoßen, wieder sorgsam abgeriebene Flecken meint man zu entdecken. So dass das ganz Eigene eines Buches zu erkennen ist, wenn es die Druckerei, die Binderei und dann den Handel verlassen hat und in die Welt getreten ist.

Man kann es auch so sagen: Annette Kelm gibt den damals verbrannten und den damals verbotenen Büchern als Bücher ihre Würde zurück.

Annette Kelm – Die Bücher: bis 4. 9., Kiel, Kunsthalle