„Wir müssen die Gefühle vergesellschaften“

Das Kollektiv „Die Soziale Fiktion“ wirbt für seinen Insecurity-Dienst

Foto: privat

Marten Flegel

31, Performer, Theatermacher und Dramaturg, meist als Teil des Performancekollektivs „Die soziale Fiktion“, das vor zehn Jahren in Hildesheim entstanden ist.

Interview Benno Schirrmeister

taz: Herr Flegel, erst hatte ich beim Titel der Performance an die Flutkatastrophe gedacht. Aber darum geht’ s nicht, oder?

Marten Flegel: Nein, unser Titel stand da schon fest, aber manchmal überschreiben die Ereignisse einfach die ursprüngliche Bedeutung. Wir beziehen uns mit „Nah am Wasser gebaut“ räumlich auf diese Neubauviertel, die gerade entstehen und oft alte Hafenquartiere sind, die also ganz wörtlich nah am Wasser gebaut sind, wie der Lindenauer Hafen in Leipzig oder die Überseestadt in Bremen. Dort haben wir an der Schwankhalle unser Konzept entwickelt und in der Überseestadt auch als Aktion im öffentlichen Raum realisiert.

Der Trailer zeigt das: Sie haben einen Insecurity-Dienst dort – sollte man sagen: pa­trouillieren lassen?

Vielleicht eher herumschwirren oder herummäandern. Wir waren jeden Tag woanders, haben Sachen ausprobiert, kleine Aktionen gemacht, auch Dinge bewacht.

War denn da jemand, um sich von der Insecurity verunsichern zu lassen?

Oft ist es dort wirklich eher menschenleer. Aber es kommt auf den Wochentag und die Uhrzeit an. Und im Überseepark ist es mitunter schon recht belebt. Dort haben wir dann zum Abschluss auch einen Rummelplatz der unerwünschten Gefühle veranstaltet …

… und der Bühnenabend in Hildesheim ist eine Videodokumentation davon?

Nein, gar nicht. Das ist eher eine fiktive Werbeveranstaltung, eine Mischung aus Agit-Pop und Theater.

Werbung? Wofür?

Für unseren Insecurity-Service. Den stellen wir als Dienstleister vor, der zwar fiktiv, aber eine als ernsthafte Vision zu verstehen ist. Das ist unser Angebot ans Publikum.

Wozu braucht es den?

Unser Motto heißt: Private Gefühle auf öffentlichen Plätzen. Unsere These ist nämlich, dass die neoliberale Gesellschaft nicht nur die Plätze privatisiert, sondern auch die Gefühle so weit individualisiert, dass ich sie nicht mehr teilen kann. In der Leistungsgesellschaft muss jeder mit seinen Gefühlen allein klar kommen, er glaubt, die Ängste allein meistern zu müssen und mit seiner Einsamkeit allein zu sein.

Und die Insecurity-Kräfte geben denen Raum?

„Nah am Wasser gebaut – Insecurity“, Performance von und mit Die Soziale Fiktion, Theaterhaus Hildesheim, 12. und 13. 5., 20 Uhr sowie 14. 5., 19 Uhr

Wir haben Objekte hergestellt, die so etwas sein sollen, wie die Vorboten einer öffentlichen Infrastruktur der Gefühle. Wir müssen die Gefühle vergesellschaften, um uns damit beschäftigen zu können.

Wie lässt sich das abgrenzen von Kollektivgefühlen, also der Emotionalisierung der Massen, etwa durch Krieg?

Das ist der schmale Grat, auf den sich unsere Performance einlässt. Wir beziehen uns mit ihr und dem Insecurity-Dienst aber in erster Linie auf Gefühle, die man primär individuell erlebt und deren gesellschaftliche Dimension übersehen oder sogar verneint wird. Das sind Unsicherheit, Erschöpfung, aber besonders auch Einsamkeit. Die Gefühle, die in Anbetracht eines Krieges aufkommen und noch verstärkt werden, sind dagegen von vornherein als kollektive Gefühle adressiert.

Im Zentrum steht dabei, wie der Titel eben auch verspricht, das Weinen: Ist das ein Zeichen von Unsicherheit?

Ja, es gibt ein Weinen, das ein Zeichen von Unsicherheit ist. Ich glaube, es ist etwas anderes, aus Trauer zu weinen, als aus Unsicherheit, und es wird oft abgewertet. Unser Titel greift das auf – und wir versuchen, es mit unserer Performance zu verschieben und anders zu besetzen.