Der Hausbesuch: Über Liebe redet man nicht

Flora-Nadia Suciv lebt mit ihren drei Kindern in Essen. Sie sind Rom:nja. Jeden Tag ringen sie um Anerkennung. Und freuen sich auf Freundschaften.

Eine vierköpfige Familie im Wohnzimmer

Gruppenbild im Schlafzimmer: Die Roma-Familie Suciv lebt seit sechs Jahren in der kleine Wohnung Foto: Andreas Teichmann

Die drei Frauen und der Zehnjährige der Familie Suciv wollen mit Vornamen angeredet werden. Weil Menschen, die sie besuchen, Freunde sind.

Draußen: Hollywood leuchtet in Altenessen. Die großen weißen Buchstaben eines Schriftzuges am Dach eines Friseur- und Kosmetikstudios nicht weit vom Marktplatz erinnern an das bekannte Schild in den Hollywood Hills. An der Hauswand ist eine fenstergroße Schere montiert, die das nördlichste Wohnviertel Essens rot beleuchtet. Und doch ähnelt es eher Bollywood.

Drinnen: Vorhänge und Gardinen hängen an den Fenstern in allen Zimmern – farbig, prächtig und mit Perlen verziert. Die Wände im Zimmer der Schwestern sind farbenfroh tapeziert mit blühenden großen Rosen in Rosa und Silber. Auf dem Doppelbett liegt ein Kopfkissen in Herzform. Zwei Nachttischchen mit Zebrastreifen stehen an den beiden Seiten des Bettes.

Küche: Wenn die Familie Suciv zusammenkommt, dann am liebsten in der Küche – die 43-jährige Mutter Flora-Nadia mit ihren beiden Töchtern, der 19 Jahren alten Isabela (19) und der sieben Jahre jüngeren Marta-Maria sowie dem zehnjährigen Sohn Cosmin-Dâniela. Um den Tisch herum ist auch genügend Platz für Gäste. An der Wand hängt das Bild des vor einigen Jahren verstorbenen Großvaters. Er hat sich mit der Familie damals auf den Weg nach Deutschland gemacht.

Erstes Glück: „Ihr Scheiß-Zigeuner!“ Das haben alle in der Familie Suciv schon gehört – in der U-Bahn, im Lebensmittelladen oder auf der Straße in Essen. Sie sind Rom:­nja aus Sucea­va, im Nordosten Rumäniens. Seit sechs Jahren wohnen sie in Essen. „Die Wohnungssuche war schwierig“, sagt Flora-Nadia. „Wir sind Roma, und die Menschen in Deutschland haben wenig Vertrauen in uns.“ Das ist die bittere Wahrheit, leider. Doch die Familie hatte Glück.

Blick aus dem Fenster in einen Hinterhof

Ein Blick in den Hinterhof des Mietshauses Foto: Andreas Teichmann

Die Macht der Sprache: Flora-Nadia redet in ihrer Muttersprache. Die mittlere Tochter Marta-Maria übersetzt. Sie macht das oft im Alltag für ihre Mutter und auch für die beiden Geschwister. Marta-Maria ist in der fünften Klasse und kann am besten Deutsch. Sie wirkt selbstbewusst. Sie kennt ihren Platz in der Mitte am Tisch. Nicht zum ersten Mal moderiert sie Küchengespräche. Das ist die Macht der Sprache. Sie lächelt charmant und mag, wenn sie das Sagen hat.

Die Geschwister: Ihre ältere Schwester bleibt fast immer zu Hause. Sie ist hochschwanger. Es wird ein Mädchen. Sie kocht Kaffee. Der kleine Bruder hat es sich auf dem blauen Ledersofa am Tisch gemütlich gemacht und isst Salzstangen. „Bei mir ist alles gut“, sagt er und greift immer wieder nach den Salzstangen. Er besucht die vierte Klasse und hat wenig Spaß an der Schule, weil sein Deutsch nicht gut ist. „Wenn ich etwas nicht verstehe, dann kommt die Lehrerin zu mir und versucht, es noch mal zu erklären. Aber eben wieder auf Deutsch“, beschwert er sich. Doch mit seinen Schulkameraden komme er klar. Jimi heiße sein bester Freund, mit ihm spiele er gerne Videospiele.

Der Helfer: „Ohne diesen Mann hätten wir es nicht schaffen können“, sagt Flora-Nadia. Der Mann, den sie meint, heißt Ezerdjan Idrizi. Er schaut heute wieder bei der Familie vorbei und trinkt am Kopfende seinen Kaffee. Der 47-Jährige ist selber Roma und koordiniert die Beratungsstelle „MifriN“. Anders gesagt: Er kennt nahezu jeden Rom und jede Romni in seiner Stadt. Seit Jahren kämpft er in Essen dafür, dass Rom:­nja Wohnungen und Jobs bekommen – und für vieles mehr. „Wir haben dagegen gekämpft, dass Maria die dritte Klasse wiederholen sollte“, erzählt er. „Das Jahr war aber nicht verloren.“ Idrizi wollte das Mädchen voranbringen und engagierte für sie Nachhilfe. Marta-Maria hatte Erfolg und durfte von der Grundschule sogar in die Realschule wechseln.

Bürokratie: Es gibt noch größere Herausforderungen als die Schule. Briefe lesen und darauf reagieren. Und davon bekommt die Familie genug – vom Jobcenter, von der Krankenkasse und der Hausverwaltung. Wenn Flora-Nadia einen Weiterbewilligungsantrag für die Sozialhilfe stellen muss oder zu Elterngesprächen eingeladen ist, geht sie mit den Schreiben zu Idrizi.

Job oder Schule? „Ich möchte selbst mein Geld verdienen“, sagt Flora-Nadia. Und das hat sie jahrelang auch getan. Als Reinigungskraft hat sie in einem Essener Unternehmen gearbeitet. Doch jetzt ist die Zeit des Lernens gekommen. Sie besucht jeden Tag einen Deutschkurs. „Anstrengend“. Arbeiten oder Lernen, das ist die Frage. Sie hat Schwierigkeiten beim Lernen, gibt sie zu. Sie will am liebsten wieder arbeiten gehen. Idrizi widerspricht: „Man kann nicht ordentlich lernen, wenn man nicht regelmäßig einen Kurs besucht.“ Diese Erfahrung macht er bei vielen der Roma-Familien.

Die Macht der Sprache: Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Das sagt auch Idrizi. Doch sein Argument, weshalb die Mi­gran­t:in­nen gut Deutsch lernen müssen, klingt anders. „Wenn Rom:­nja kein Deutsch sprechen, werden sie ausgenutzt.“ Verkürzte Stundenangaben passierten am häufigsten. Dass also weniger bezahlt wird, als gearbeitet wurde. „Auch landet man als Reinigungskraft ohne Deutschkenntnisse öfter in kleinen Firmen, die noch weniger bezahlen als die professionellen Reinigungsunternehmen.“ Flora-Nadia sei auch betroffen. Sie arbeitet vier Stunden, vom Arbeitgeber werden aber nur zwei berechnet. „Migranten und Migrantinnen müssen Deutsch lernen, um eigene Rechte verteidigen zu können“, wiederholt Idrizi.

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Online kochen: Er hat noch einen anderen Plan. Er will Rom:­nja digital begleiten. Einmal in der Woche will er Frauen über Zoom zusammenbringen, um ihnen die digitalen Werkzeuge beizubringen. Eine weitere Herausforderung für Flora-Nadia. Sie lacht und bedeckt mit ihren Händen das Gesicht. „Ihr werdet kochen, aber online“, sagt Idrizi. Und sie nickt.

Polizistin: Man redet wenig vor Fremden über die Probleme in der Familie. Auch von den Träumen erzählt man nicht so gerne. Welche das sind? Marta-Maria kennt ihre genau. „Ich will Ärztin werden oder noch besser Polizistin“, sagt sie. Mit dem Beruf will sie Anerkennung in der Gesellschaft erreichen. „Aber auch die schlechten Menschen ins Gefängnis bringen“, sagt sie. „Diejenigen, die klauen, töten oder auch schlagen und Menschen beleidigen.“ Ihr Bruder sagt: „Bei mir ist alles gut“, und streckt seine Hand zum Teller mit den Salzstangen.

Liebe: Und die Träume der Mutter? „Dass meine Kinder gesund bleiben, ihr Glück finden und gute Menschen werden.“ Und was ist mit der Liebe? „Über Liebe redet man auch nicht. Sie gehört nur zum Herz“, antwortetet sie. Doch macht sie einen Augenblick ihre Augen zu. Und ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. Nun ist Marta-Maria neugierig und stellt stur dieselbe Frage. „Mit Mama haben wir nie darüber geredet“, sagt sie. „Auch wenig über die Vergangenheit in Rumänien.“

Scham: Und wie ist die Mutter so? Ist sie streng? „Wenn wir schlechte Noten in der Schule bekommen“, sagt Marta-Maria. Sie mache sich Sorgen um die Schule. „Aber ich bin in Englisch sogar sehr gut, und deswegen schämt sich meine Mutter für mich nicht mehr.“ Oft aber hätten sich die einzelnen Familienmitglieder schämen müssen, weil sie nicht so wahrgenommen worden seien, wie sie in Wirklichkeit sind. Doch wer muss sich eigentlich schämen, meint Idrizi zu Recht. „Die Wohnung ist frisch renoviert, und es wäre schade, wenn dort eine Roma-Familie wohnt“, das war nur eine von den vielen Antworten, die er bei Wohnungsbesichtigungen gehört hat – ganz klar, sehr deutlich und unverschämt. „Große Vorurteile und Ängste sind in der deutschen Gesellschaft verankert“, sagt er.

Freundschaften: „Wir können in Essen nur etwas ändern, wenn wir miteinander reden.“ Und Flora-Nadia sagt zum Abschluss: „Unsere Haustür ist für alle offen, wir freuen uns auf neue Freundschaften.“

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