Expertin über Krieg und Geschlecht: „Nicht alle Männer sind Kämpfer“

Frauen fliehen, Männer vergewaltigen? Die ukrainische Genderforscherin Marta Havryshko spricht über Geschlechterrollen im Krieg.

Drei Frauen bereiten in einer Küche Teigtaschen zu

Freiwillige bereiten Varenyky, gefüllte Teigtaschen, in einem Theater in Drohobytsch zu, 21. März Foto: Bernat Armangue/ap

taz: Frau Havryshko, es scheint, als ob der Krieg gegen die Ukraine Geschlechterrollen um Jahrzehnte zurückwirft. Männer kämpfen und werden zu Helden stilisiert, Frauen und Kinder fliehen. Stimmt dieser Eindruck?

Marta Havryshko: Offiziellen Zahlen der Vereinten Nationen zufolge sind fast 90 Prozent derjenigen, die aus der Ukraine geflohen sind, Frauen und Kinder. In dieser Hinsicht stimmt das also. Aber natürlich sind nicht alle Männer von Natur aus heroische Kämpfer. Viele würden gern fliehen, viele wollen bei ihren Familien und in Sicherheit sein. Es ist eben verboten.

Der Eindruck traditioneller Geschlechterrollen entsteht durch die Entscheidung Selenskis?

Auch. Diejenigen Männer, die laut sagen, dass es allen Menschen erlaubt sein sollte, zu fliehen, sind in der Ukraine harscher Kritik ausgesetzt. Sie ist gespickt mit Geschlechter­stereo­typen: Echte Männer sind an der Front, du bist kein echter Mann. Der hegemoniale Diskurs unterminiert ihre Maskulinität, wenige stellen das in Frage. Niemand fragt Frauen, warum sie nicht bei den Streitkräften sind. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Ukraine allerdings kaum von anderen Ländern. Das ist globale patriarchale Kultur.

Haben sich durch den Krieg auch Geschlechterrollen verändert?

Die haben sich durch den Krieg schon in den vergangenen acht Jahren deutlich verändert, im nichtmilitärischen wie im militärischen Bereich. Bis 2014, 2015 galten zum Teil noch alte sowjetische Gesetze. Frauen durften bis dahin zum Beispiel nicht als Metrofahrerinnen, Tischlerinnen oder in der Kohle­industrie arbeiten. Fast 500 bis dahin verbotene Berufe wurden dann für Frauen geöffnet. Das war ein immenser Fortschritt.

Und im militärischen Bereich?

ist 37 und floh Anfang März mit ihrem Sohn und einem Sohn ihrer Schwester aus Lviv. Sie ist Historikerin und arbeitet vor allem zu sexualisierter Gewalt und Krieg, auch in der Ukraine der ­Gegenwart. Seit Anfang April arbeitet sie an der Universität Basel.

Nach der Annexion der Krim 2014 hat sich die Zahl der Frauen in den ukrainischen Streitkräften verdoppelt. 2013 waren es knapp 17.000, heute sind es rund 33.000. Viele waren Lehrerinnen, Erzieherinnen, Hausfrauen. Diese Frauen hatten nie zuvor Waffen in der Hand, plötzlich traten sie der Armee bei.

Warum?

Nach dem Euromaidan kam ein immenser patriotischer Aufschwung. Auf einmal waren viele Frauen überzeugt, dass ihr Platz nicht bei ihren Kindern zu Hause ist, sondern an der Front, um ihr Land zu verteidigen. Die rund 15 Prozent Frauen, die heute in der ukrainischen Armee sind, sind vergleichbar mit gut entwickelten Armeen anderer Länder. Deutschland hat sogar weniger. Die Armee ist für ukrainische Frauen ein attraktiver Arbeitsmarkt geworden. Gleichzeitig betrachten manche Frauen die Armee als einen Ort, an dem Geschlechterrollen herausgefordert werden können.

Inwiefern?

Die Frauen werden Teil patriarchaler Strukturen und brechen sie gleichzeitig auf. Sie zeigen, dass auch Frauen gute Soldatinnen sein können. Weibliche Sniper sind unter den – ich nutze das Wort ungern – erfolgreichsten ukrainischen Snipern überhaupt. Für einige ist das eine Form von Empowerment. Andere engagieren sich in gewissermaßen traditionellen Bereichen wie Care.

In der kulturellen Repräsentanz des Krieges tendieren wir dazu, Frauen als Opfer zu sehen. Aber viele Frauen organisieren sich, kochen Wareniki oder Borschtsch und bringen das Essen an die Front. Andere treffen sich in Schulen und knüpfen Camouflagenetze.

Es gibt bereits Berichte über sexualisierte Kriegsgewalt. Welche Rolle spielt das Thema in der Ukraine?

Anfang April wurden Aufnahmen von 15 Soldatinnen veröffentlicht, die aus russischer Gefangenschaft entlassen worden waren. Ihre Köpfe waren geschoren worden, um sie zu demütigen.

Sie sahen trotzdem nicht demütig aus, eher stolz.

Ja, aber sie haben berichtet, dass sie sich während der russischen Befragungen nackt ausziehen mussten. Wir kennen viele solcher Geschichten von 2014 und 2015, als Soldatinnen im Donbass gefangen genommen wurden. Die meisten hatten sexualisierte Gewalt überlebt. Viele Soldatinnen sind deshalb bereit, Suizid zu begehen, um nicht in Gefangenschaft zu geraten.

Auch von Zivilistinnen gibt es Berichte über Vergewaltigungen durch russische Soldaten.

Sexualisierte Gewalt ist eine enorm gegenderte Dimension des Kriegs – nicht nur gegenüber Frauen. Nach 2014 gab es Berichte von Human Rights Watch, dass ukrainische Männer in Gefangenschaft kastriert worden waren. Nichtsdestotrotz erleben vor allem Mädchen und Frauen sexualisierte Gewalt, die im Krieg bewusst als Waffe eingesetzt wird, um zu terrorisieren und zu demütigen.

Es gibt bereits viele Berichte, dass Mädchen vergewaltigt wurden, manche jünger als zehn Jahre, zum Teil vor den Augen ihrer Familien. Ihre Vaginen waren zerfetzt. Da kommen immense Traumata auf uns zu. Viele Überlebende werden darüber schweigen, weil sexualisierte Gewalt noch immer schambesetzt und stigmatisiert ist. Manche Männer akzeptieren keine vergewaltigten Frauen mehr. Also behalten sie es lieber für sich.

Was tun?

Wir müssen diese Fälle dokumentieren, um die Täter irgendwann zur Rechenschaft zu ziehen. Sexualisierte Kriegsgewalt signalisiert: Ihr könnt „eure“ Frauen und Kinder nicht schützen. Das ist Kommunikation von Mann zu Mann.

Obwohl die Vizepräsidentin der Ukraine eine Frau ist, bestehen die derzeitigen Verhandlungsdelegationen ausschließlich aus Männern. Längst ist klar, dass stabilere Abkommen aus gemischtgeschlechtlichen Teams bestehen. Warum spielen Frauen in dieser Hinsicht keine Rolle?

Das spiegelt schlicht das Problem fehlender Geschlechtergleichheit in der Ukraine. Das Land hat in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte in Bezug auf Menschenrechte gemacht, es herrscht Meinungsfreiheit, wir arbeiten an Diversität. Aber die Ukraine ist noch keine vollständig funktionierende Demokratie und es ist Teil des großen Ganzen, dass es generell nicht viele ukrainische Politikerinnen gibt. Fast 80 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Männer.

Auch die weitaus meisten in den Medien zitierten Experten sind Männer, die meisten Führungspositionen werden von Männern besetzt. Unser Präsident hat als Comedian unter anderem auf sexistische Witze gesetzt.

Wie gibt er sich in dieser Hinsicht heute?

Er spricht nun zumindest täglich ukrainische Frauen direkt an, auch ukrainische Soldatinnen. Sie verlieren Gliedmaßen wie Männer, sie werden getötet wie Männer. Selenski hat erkannt, dass wir kein freies, demokratisches Land sein, Frauen aber weiter unsichtbar machen können. Immerhin ist die Vizepräsidentin übrigens innerhalb der Ukraine momentan sehr präsent. Aber natürlich ist es ein Problem, dass die Expertise von Frauen in den Verhandlungen fehlt.

Gibt es noch feministische Initiativen vor Ort?

Ja, diese Initiativen waren und sind sehr aktiv. Es waren Feministinnen, durch deren Kämpfe die angesprochenen Gesetzesänderungen in Gang kamen. Women’s Perspectives zum Beispiel, eine Initiative aus Lviv, arbeitet seit 20 Jahren gegen häusliche Gewalt. Jetzt organisieren sie Schutzräume für Frauen, die die umkämpften Gebiete verlassen. Manche sind mit Neugeborenen unterwegs, manche haben Behinderungen. Viele Initiativen dokumentieren jetzt sexualisierte Gewalt, organisieren Hygieneprodukte, machen Medienarbeit oder drucken Flugblätter.

Flugblätter?

Um Frauen vorzubereiten, die ankommen. Geflüchtete Frauen laufen derzeit Gefahr, Opfer von Menschenhandel zu werden. Da braucht es einfach zugängliche Information über die drängendsten Gefahren. Bei meiner Flucht haben Männer an der polnischen Grenze nach jungen, schönen Frauen Ausschau gehalten, um ihnen vorgeblich Unterkünfte anzubieten. Da ist dann schon die Frage: Warum ausgerechnet junge Frauen?

Und auch nach der Flucht gibt es diese Gefahren. Viele, die nicht gut ausgebildet sind, werden schlecht bezahlte Jobs machen müssen, legal oder illegal putzen. Manchen droht Prostitution. Wer kein Geld hat, nimmt jeden Job.

Wie diskutieren feministische Initiativen den Krieg?

In der Ukraine gibt es schon länger einen Konflikt zwischen Nationalismus und Feminismus. Manche Feministinnen haben sich für die Militarisierung der vergangenen Jahre eingesetzt. Ich kann verstehen, dass sie nötig war und ist, um zu überleben. Trotzdem habe ich sie nie unterstützt.

Stattdessen habe ich zum Beispiel auf sexualisierte Gewalt innerhalb des ukrainischen Militärs aufmerksam gemacht. Darüber wollte niemand reden. Der Vorwurf war, das leiste Putins Propaganda Vorschub. Aber ich will, dass Frauen es besser haben. Diese Widersprüche sind nicht einfach zu lösen.

Was wäre Ihr Vorschlag?

Ich glaube daran, dass wir Widersprüche benennen müssen. Dass wir weiter auf unbequeme oder schmerzhafte Konflikte aufmerksam machen, dass wir Geschlechterrollen thematisieren müssen. Wir können nicht damit aufhören, weil Krieg ist. Es geht darum, ob die Ukraine ein freies, demokratisches Land wird, das Menschenrechte achtet. Es geht um unsere Zukunft.

Aus dem Englischen Patricia Hecht

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