Queeres Rock-Musiktheater: Die doppelte Hedwig

In Hannover und Schwerin kommt „Hedwig and the Angry Inch“ auf die Bühne. Erfreulicherweise mit Interesse an jeweils Unterschiedlichem.

Eine Schauspielerin in einem Kleid steht etwas schief auf einer dunklen Bühne und wird rosafarben angestrahlt

Das ganze Leben ist eine Diskokugel? Lili Alexander als Hedwig am Mecklenburgischen Staatstheater Foto: Silke Winkler

Hedwig! Kraftkerlig wird der Star des Abends angekündigt und aus der Unterbühne hochgefahren: Sie schüttelt ihre Blondhaar-Perücke, entfaltet das glimmernde Flügelkleid an den Armen und den passend dazu kunterbunten Oberkörper, später werden Perlenketten auf dem entblößten Brusthaar tanzen. Hier präsentiert sich jemand nicht klischeegrau an einem der zwei Eckpfosten der Geschlechterskala, nein: Dieser Mensch funkelt, glänzt, strahlt glamourös irgendwo dazwischen – oder gleich ganz drumherum.

Gleich auf zwei Bühnen im Norden ist das Musical „Hedwig and the Angry Inch“ von John Cameron Mitchell dieser Tage noch zu sehen. In Hannover spielt der auch dort aufgewachsene Mohamed Achour die Hauptrolle. Er startet als extravagante Rock-’n’-Roll-Drag-Queen, gockelt wie Mick Jagger eine klassisch offensive Macker-Rocknummer, tänzelt auch im Glamrock-Bowie-Stil und rotzt wie Johnny Rotten.

Sein herzlich genervter Sidekick Yitzhak (Katherina Sattler) mag sich eher an Iggy Pop orientieren, das breitbeinige Bewegungsrepertoire dabei so dezent überbetont, dass es eine Freude ist. Sattler singt aber mit ebenso rocktimbrierter Intensität wie Achour.

Wo wir bei der Musik sind: Dem Quartett um Peter Thiessen (Blumfeld, Kante) und Peta Devlin gelingt im Hintergrund etwas für Theaterbühnen nicht Selbstverständliches. Es rockt tatsächlich, hat einen vorbildlich druckvollen, rauen und dabei doch transparenten Sound, ob bei Country, Punkigem, balladeskem Popkitsch oder Stadionpathosmucke.

Friederike Heller inszeniert einen Mix aus Rockkonzert und Stand-up-Comedy. In den An- und Abmoderationen der Songs – von Stephen Trask – schnodderschnauzt Hedwig ihre Geschichte vom zarten Hänsel aus Ostberlin. Den nötigen ein GI wie auch eine lieblose Mutter zur Geschlechtsumwandlung, sodass sie als Frau des Besatzungssoldaten in die USA emigrieren darf.

Die OP geht schief, aus dem vormals sechs Zoll – Englisch: inch – langen Penis wird keine Vagina, stattdessen das Stück Restmännlichkeitsmerkmal, das dem Stück auch den halben Titel stiftet

Weitere Vorstellungen:

Di, 17. 5., 19.30 Uhr (danach Gespräch mit Dragqueen Carrie Gold zum Internationalen Tag gegen Queerfeindlichkeit); Do, 16. 6., 19.30 Uhr, Hannover, Schauspielhaus

4., 5., 19. und 25. 5., jeweils 19.30 Uhr, Schwerin, E-Werk

Fortan sucht Hedwig ihren Platz zwischen sämtlichen Stühlen des Genderdiskurses und schlägt sich durch mit dieser Personality-Show, die auf dem Verruchtheitsniveau von „Kein Schwanz ist so hart wie das Leben“ angesiedelt ist und mit eigens eingebauten Hannover-Anekdoten Punkte sammelt in Sachen Lokalpatriotismus.

Deutlich erspielt sich Achour auch Hedwigs Wut und Schmerz angesichts des durch alle Bühnenbildöffnungen hereindröhnenden Parallelkonzerts eines Ex-Liebhabers: Der hat ihre Kompositionen gestohlen und es damit zum Superstar gebracht. Ob Hedwig trans- oder intersexuell oder genderqueer ist, bleibt unbestimmt und ist auch nicht so wichtig in Hannover.

Den Gegenentwurf dazu inszeniert Thomas Helmut Heep in Schwerin: Dort erklingen die Lieder in breiigem Stadtfest-Coverband-Sound. Haupt­dar­stel­le­r*in Lili Alexander verkörpert nicht Hedwig, vielmehr sich selbst: Geboren als biologischer Mann, outete sie sich zunächst als bisexuell, später als schwul und entwirft heute eine Trans*-Identität nach dem Motto: „Das ganze Leben ist eine Diskokugel.“

So sehr Alexander die Grenzen zwischen Mann und Frau einreißen will, steht sie in Bewegung und Kostümierung nicht nur für non-binäre Allmenschlichkeit, sondern zeigt in schwarzen Textilfetzen und kniehohen Lackstiefeln vor allem ihre feminine Seite. Dabei reproduziert sie durchaus auch Frauen-Fantasien aus Männerköpfen. Die Performerin lädt ein, ihr zwei Stunden „beim Labern“ über Selbstentdeckung, -erfindung und -definition zuzuschauen. Der ihr freundlich zugewandte Sidekick, Mezzosopranistin Itziar Lesaka aus dem Opernensemble, kommt kaum zu Wort (kann aber viel besser singen).

Das ist einer der Nachteile der Besetzung: Der Gesang der Schweriner Prot­ago­nis­t*in ist im Vergleich zu den Hannoveraner Kol­le­g:in­nen eher eine Karaoke-Version, es fehlen die Shouter-Qualitäten. Zudem stellt sie zwar Bezüge her zur „wilden Energie“ der Hedwig-Biografie, kann die dramatischen Situationen als Lai­en­dar­stel­le­r*in aber nicht ganz erspielen.

Ganz eigene Genderdebatte

Es überwiegt allerdings der Vorteil – die Authentizität. Hier geben keine Cis-Mimen hochprofessionell ein Rockmusical mit Trans-Thema, sondern ein*e Betroffene moderiert ihre höchst eigene Genderdebatte. Und zeigt sich gerührt, wenn die eigene Oma zitiert wird: „Du bist ok so wie du bist.“

Damit ist die Performance mitten in aktuellen, viral gegangenen Identitäts-Diskussionen angekommen: Ärztevertreter berichten von immer mehr Menschen, die sich aufgrund einer sogenannten Geschlechtsdysphorie beraten lassen und in Therapie begeben, um eine Geschlechtsangleichung vornehmen zu lassen.

Die Deutsche Gesellschaft für Transidentät und Intersexualität vermutet, dass ungefähr 0,6 Prozent der Deutschen trans* sind. Mehr als verdreifacht habe sich in den vergangenen fünf Jahren die Zahl der von dem Verein ausgegeben Ergänzungsausweise; darin ist die geschlechtliche Verortung dokumentiert. Auch seien die Verfahren nach dem Transsexuellengesetz an deutschen Amtsgerichten deutlich gestiegen.

Freude über neue Freiheiten betont Lili Alexander: Ob Operation, Hormonbehandlung, neuer Bekleidungsstil oder auch nur ein anderes Pronomen – „Alle sind trans*“ lautet ihre umarmende Definition. In Videoeinblendungen stellen sich aber auch Ver­tre­te­r*in­nen des Vereins Trans*- und Inter*-Menschen in Mecklenburg (TIM*) vor, berichten von Diskriminierung im Alltag und im Beruf, weswegen viele nur „Überlebensjobs“ nachgehen könnten.

Gesprochen wird auch über demütigende Befragungen, um den gewünschten Status bestätigt zu bekommen. Viele trans* Menschen blieben aus Scham unsichtbar, heißt es. Alexander selbst erzählt von Angst vor Übergriffen und singt ein Loblied auf die schützende Community. Nach jeder Aufführung sind TIM*-Mitglieder vor Ort und leiten das Nachgespräch.

Die Realität von trans* Menschen kennenzulernen, das ermöglicht mit großem Ernst die Inszenierung in Schwerin. Dort ist das Publikum gerührt, in Hannover dagegen eher geflasht von all der performativen Energie.

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