Vorlesung zu „Alternativen Fakten“: Die Errettung vom Blödsinn

Die Kieler Ringvorlesung „Wissenschaft und Alternative Fakten“ soll gegen Populismus und Propaganda helfen. Sie ist auch per Zoom zugänglich für alle.

Einen in Ketten gelegten US-Präsidenten Donald Trump und den Nobelpreisträger Albert Einstein zeigt ein Plakat am 22.04.2017 beim sogenannten "March for Science" in Frankfurt am Main.

Der eine lügt, der andere forscht: Plakat beim „March for Science“ 2017 in Frankfurt am Main Foto: dpa / Boris Roessler

KIEL taz | Michael Bonitz ist ein Mann der klaren Worte. Wenn er über die Wissenschaft spricht, ist Kampfgeist zu spüren, Sendungsbewusstsein, eine klare Haltung: Eine „Immunisierung“ gegen Populismus, Polemisierung und Propaganda sieht der Plasmaphysiker in ihr, Professor am Institut für Theoretische Physik und Astrophysik der Kieler Christian-Albrechts-Universität (CAU). Sie sei „unsere schärfste Waffe“ gegen „abstruse Meinungen“, Demagogie und rationalitätsfernen „Schwach- und Blödsinn“.

Eine wichtige Aufgabe. Verschwörungserzählungen und Fake News haben Zulauf, von den sich in einer Impfdiktatur wähnenden Querdenkern bis zu all jenen, die behaupten, Russland verteidige sich in der Ukraine gegen Nazis. Bonitz will mit Wissenschaftskommunikation dagegenhalten: 2017 hat er an der Universität Kiel die Ringvorlesung „Wissenschaft und Alternative Fakten“ ins Leben gerufen, getriggert durch Donald Trumps Falschbehauptung, zu keiner Amtseinführung eines US-Präsidenten seien mehr Menschen gekommen als zu seiner.

Die Vorlesungen sind interdisziplinär, laienverständlich, kostenfrei und offen für alle. Angst vor Hemmschwellen muss hier niemand haben. Wer will, kann per Zoom-Link mithören und mitdiskutieren. Im Sommersemester 2022 feiert die Veranstaltungsreihe ihre zehnte Auflage.

Zu deren Auftakt hatte Bonitz am 21. April im Hörsaal H des Kieler Audimax Zwischenbilanz gezogen, vor einer riesigen, klassischen Kreidetafel: Die Impulsvorträge, von der Gentechnik bis zum VW-Dieselskandal, vom Terrorismus bis zum Geoengineering, vom Alienbesuch bis zur Quantenphysik, von der 5G-Strahlung bis zur Klimakrise, drei bis sechs pro Semester, hatten bis zu 400 TeilnehmerInnen.

Michael Bonitz,Institut für Theoretische Physik

„Viele Medien informieren nicht. Sie agitieren, benutzen Emotionen“

Mitunter musste das NachwuchswissenschaftlerInnen-Team, das Bonitz unterstützt, bis zu 100 Fragen pro Abend moderieren. Und das Ziel ist stets dasselbe: „Wir verstehen uns nicht als Faktenchecker“, erklärt Bonitz der taz. „Wir erheben auch keine Zeigefinger“, behauptet er. „Wir zeigen, wie Wissenschaft entsteht und funktioniert.“ Es gehe um Entemotionalisierung und Entpolitisierung, um den Abbau von Denkbarrieren.

Zwei Stunden lang dauert das Format. Die meiste Zeit nehmen Fragen und Antworten ein. Oft sind die Themen bewusst kontrovers – rund ein Drittel entstehen durch Anregungen der HörerInnen. Oft münden die Abende in konkrete Vorschläge für Politik und Gesellschaft.

Während Bonitz spricht, sind rund 20 Zuhörer im Saal, rund 40 digital zugeschaltet, vergleichsweise wenig: „Eine Auswirkung von Corona“, vermutet Bonitz. „Viele Leute sind wohl noch unsicher, was möglich ist.“ Er geht ein Wagnis ein an diesem Donnerstag, denn sein Vortrag „Die Fünfte Gewalt? Wissenschaftler im Frieden und im Krieg“, behandelt auch die Ukraine.

„Eigentlich war das ganz anders geplant“, sagt er. „Das ist ja auch gar nicht mein Fachgebiet. Aber übergehen konnten wir das natürlich nicht.“ Einer der Fakten, die Bonitz referiert, ist die Resonanz auf einen durch ihn initiierten offenen Brief an russische Wissenschaftler, einen Minimalkonsens zu unterzeichnen: sofortiges Ende der Kämpfe, Verhandlungen, allseitige Kompromissbereitschaft. „Vereinzelt hatte das Erfolg“, sagt Bonitz. „Aber insgesamt war das Ergebnis ernüchternd.“

Manchmal haben auch KollegInnen Fragen, wenn Bonitz sie für einen Vortrag einlädt. „In Kiel kennt man uns natürlich“, sagt er. „Aber auswärts müssen wir zuweilen schon erklären, was wir hier machen.“ Auch das Wie kann dann Thema sein. „Man kann hier ja nicht einfach so sprechen wie vor Fachpublikum.“

Bonitz wünscht sich, dass die Wissenschaft sich stärker gesellschaftlich engagiert. „Nur ein aufgeklärtes Volk“, sagt er, „kann seiner Politik aufgeklärte Entscheidungen abverlangen.“ Als Externe hat er Henning Wilts vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gewonnen, der am 5. Mai fragt: „Wie viel Müll passt in den nachhaltigen Kreislauf?“ Zwei Wochen später erkundet der Kieler Volkswirtschaftler Till Requate, ob „Deutschland innovativ genug“ ist und den Abschluss bildet Materialwissenschaftler Rainer Adelung mit „Nanotechnologie: Toll, toxisch oder beides?“

„Die Probleme dieser Welt sind komplex und global“, steht in der Präsentation, an der sich Bonitz im Hörsaal H in seiner Zwischenbilanz orientiert. Sie seien „nur durch Wissenschaft zu lösen“. Ein hoher Anspruch. Worte wie „Gift des Nationalismus“ stehen da auch. Es gelte, „unbarmherzig“ beim Umgang mit Fakten und Fakes zu sein, „kompromisslos“ gegen Fälschungen.

Bonitz mag es klar, notfalls auch hart. „Wissenschaft und Alternative Fakten“ inspiriert auch die Wissenschaftler selbst: „Oft stellen Laien ganz grundsätzliche, mitunter auch sehr ungewöhnliche Fragen“, sagt Bonitz. Das könne „zu Aha-Erlebnissen“ führen. „Mancher entschuldigt sich auch für vermeintlich dumme Fragen. Aber dumme Fragen gibt es nicht!“

Manchmal, erzählt Bonitz der taz, finde er seine Themen auch in den Medien. Zu denen hat der streitbare CAU-Repräsentant eine ganz eigene Meinung. „Viele Medien informieren nicht“, meint er, „sie agitieren, benutzen Emotionen.“ Oft gehe es nicht um Vermittlung, sondern um Polarisierung. Viele Medien, sagt Bonitz, „haben keine Glaubwürdigkeit und Wirkung außerhalb der eigenen Blase“.

Merkwürdiger Vorwurf

Würde Bonitz die Medien, nach Exekutive, Legislative und Judikative klassischerweise die Vierte Gewalt im Staat, gern auf neutralen Faktentransport beschneiden? „Natürlich nicht“, sagt er der taz nach seinem Vortrag. „Aber die Balance zwischen Fakten und Meinungen stimmt oft nicht.“ Eine Einschätzung, die ihrerseits nur eine Meinungsäußerung ist, genau das also, was Bonitz in seinem Vortrag dem Journalismus vorgeworfen hatte: sich zu wenig auf Fakten zu fokussieren, dafür zu sehr auf Meinungen. Das sei nicht seine Aufgabe.

Ein merkwürdiger Vorwurf. Denn nicht nur, dass in Artikel 5 des Grundgesetzes ausdrücklich die Freiheit der Meinung geschützt ist, explizit auch unter Verweis auf die der Presse. Nicht nur, dass absolute Objektivität nur ein Ideal ist, keine Wirklichkeit. Dass Journalismus auch aus Haltung und Empathie besteht, aus Formaten wie Leitartikel, Essay und Kommentar, ist nicht per se fakten- und wissenschaftsfeindlich. Selbst ein Plasmaphysiker sollte das wissen.

Sachlichkeit und Respekt

Sachlichkeit und Respekt will der CAU-Professor fördern, Offenheit und gegenseitiges Zuhören. Wer Schwarz-Weiß-Denken propagiert, erntet sein Kopfschütteln. Gut so. „Wissenschaft und Alternative Fakten“ tritt an, beides zu leisten. Kritische Nachfragen mag er dennoch nicht. Den Wunsch, das Vorlesungsvideo noch einmal einzusehen, erfüllt er nicht. Technische Gründe?

Das wäre überraschend. Denn bislang sind alle Vorträge der verdienstvollen Reihe unter faktoderfake.org archiviert. Und Vortragstitel wie „Grünes Grönland?“, „Grundeinkommen: nicht Utopie, sondern Gebot“ oder „Fakten und Mythen zum Coronavirus: raue See, Sturm aus allen Richtungen und noch dazu Glatteis“ signalisieren: Was Bonitz ins Leben gerufen hat, ist vieles. Dröge ist es nicht.

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