Proteste am 1. Mai in Berlin: Grunewald kommt unters Rad

Tausende Menschen demonstrieren mit einer Radtour für Umverteilung, Vergesellschaftung und gegen Verdrängung. Ziel ist das Villenviertel Grunewald.

Ein DJ sitzt auf einem Radanhänger

Auf ins Villenviertel: De­mo­teil­neh­me­r*in­nen am Sonntag in Berlin Foto: Jens Gyarmaty

BERLIN taz | Eine Frau mit kurzen blondierten Haaren steht in der Laskerstraße am Ostkreuz vor einem Lautsprecherwagen und ruft ins Mikro: „Schön, dass ihr da seid, um in den schlimmsten Problembezirk der Stadt zu fahren. Viele von uns sind nach zwei Jahren Pandemie am Limit: Pflegekräfte, Geringverdiener, Arbeiter*innen. Für die Reichsten aber waren es fette Jahre.“ Die nämlich hätten ihre Vermögen während Corona um ein Drittel gesteigert.

Die trotz Krieg steigenden Dividenden landeten in Villenvierteln, sagt die Frau, die als Gigi vom Bündnis MyGruni vorgestellt wird. „Wir fahren nach Grunewald, um zu sagen, es geht so nicht weiter: Wir brauchen Umverteilung von oben nach unten und nicht andersrum!“ Die Reichen müssten Teil der Lösung werden und nicht weiter Teil des Problems sein.

Während am Vortag vorübergehend ein Hotel besetzt worden war, um daraus Wohnraum für Geflüchtete zu machen, und am Abend die queerfeministische Take-Back-The-Night-Demo kämpferisch durch Prenzlauer Berg und Mitte zog, startet am Sonntagvormittag der gemütlichere und eventähnlichste Teil des aktionistischen Wochenendes rund um den 1. Mai: die hedonistische Fahrraddemo, die sich selbst als „diskursive Einstiegsdroge in die Beschäftigung mit der Klassenfrage“ sieht.

Oder, wie das MyGruni-Bündnis es nennt: „Das Quartiersmanagement Grunewald lädt auch in diesem Jahr ein, den sozial verwahrlosten Problembezirk aus seinem dornigen Schlaf wach zu küssen.“ Doch eine Technodemo dort wie vor Corona ist nicht erlaubt. Stattdessen ist der Weg das Ziel, und so fahren aus ganz Berlin Mitglieder und Un­ter­stüt­ze­r*in­nen linker Gruppen Richtung Südosten – und zurück.

Die Jalousien der Villen sind größtenteils zugezogen. Einige Be­woh­ne­­r*innen winken aber freundlich

Der Ort, an dem Gigi spricht, ist nicht zufällig gewählt: Im Friedrichshainer Laskerkiez gibt es – wie an vielen Berliner Orten – Investoren-Großprojekte, die die prekäre Lage in den ohnehin schon von Verdrängung betroffenen umliegenden Kiezen noch mal verschärft.

Ein Redner vom Bündnis Laskerkiez gibt den Überblick: Um die Ecke soll statt sozialem Wohnraum ein „International Campus“ entstehen mit Mikroappartements für Studierende, deren 17 Quadratmeter voraussichtlich 700 Euro Miete monatlich kosten werden; auf der anderen Seite entstehe ein Bürokomplex mit dem – Werbetexter-Höhöhö – Namen Alasker. Hinzu kommt der Ostkreuz-Campus vom Investor Pandion, der Amazon-Tower, und auch die Rummelsburger Bucht ist nicht weit, wo Hotels mit Aquarium Förderung des Landes bekommen.

Lokale Gruppen wehren sich gegen Verdrängung

Dagegen stehen lokale Initiativen, die bleiben wollen und sich gegen Aufwertung wehren: Clubs wie das about:­blank oder die Wilde Renate und das Kulturzentrum Zukunft am Ostkreuz, dem gekündigt wurde (und wo man am Samstag feierte und protestierte).

In diesem Sinne fahren aus dem Laskerkiez mehrere hundert Menschen auf dem Rad erst mal in Richtung Stadtzentrum. Unterwegs schließen sich weitere Protestierende an. Sie klingeln und jubeln, verteilen vom Fahrrad aus Flyer an Passant*innen. Begleitet wird dieser sogenannte „Zukunftsfinger Ost“ von einer Staffel der Fahrradpolizei.

Am Roten Rathaus treffen auch die anderen beiden Finger ein: der „Mittelfinger“ aus dem Wedding und Pankow sowie den „Umverteilungsultras“ aus Neukölln und Treptow. Redebeiträgen verschiedener linker Bündnisse – dabei sind etwa das Gorillas Workers Collective, die Berliner Krankenhausbewegung, die Vermögendeninitiative „Tax me now“ – werden per Fahrradklingel Zustimmung signalisiert.

Die Stimmung ist gut, obwohl die Zahl der Teilnehmenden zu diesem Zeitpunkt noch gering ist: Anfangs hat die Fahrraddemo mit 1.000 Teilnehmenden deutlich weniger Zulauf als im Vorjahr; aber im Laufe des Tages wächst der Zug auf mehrere tausend Teilnehmende. Schon auf der Mitte der Strecke dauert es knapp 20 Minuten, bis die gesamte Fahrrad-Demo vorüber gefahren ist.

DJs auf Radanhängern

Unterwegs gibt es Umverteilungssprechchöre auf dem Kudamm zwischen Juwelieren und Luxus-Boutiquen. Es fahren mobile Soli-Bars mit; ein DJ legt auf einem Fahrradanhänger Musik auf und bekommt während der Fahrt Drinks gereicht. Aus den Lautsprecherwagen gibt es vorbereitete Redebeiträge. Die Stimmung bleibt gut.

Nach etwa anderthalbstündiger Fahrt kommt die Demo am Johannaplatz in Grunewald an. Vor Ort läuft ein Volksfest für die Gru­ne­wal­de­r*in­nen mit einem Programm zwischen anarchistischer Jodelmusik und Enteignungs-Beatbox. Die Jalousien der Villen ringsum sind größtenteils zugezogen. Einzelne Be­woh­ne­r*in­nen winken aber freundlich. Auf dem Platz stehen kleine Grüppchen von Polizist*innen, die grimmig dreinschauen, aber ihre Helme nicht benötigen. Allerdings traut die Polizei der friedlichen Stimmung nicht: Jede noch so kleine Zufahrt und Querstraße jenseits der Route ist abgeriegelt. Überall stehen kleine Gruppen Po­li­zis­t*in­nen hinter Hamburger Gittern und vor den Grundstücken der Vermögenden.

Die Fahrraddemo wird an dem Platz nur für ein kleines „Zusammenstößchen“ vorbeigeschleust – und fährt wieder Richtung Neukölln. Zurück geht’s für die meisten über die gesperrte A100 zur Revolutionären 18-Uhr-Demo.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.