Regisseur Gaspar Noés Film „Vortex“: „Das Alter ist ein Kampf“

„Vortex“ ist ein Film über das Sterben. Der Regisseur spricht über Endlichkeit, Arbeiten im Lockdown und Horrormeister Dario Argento als Schauspieler.

Ein zweigeteiltes Bild einer Frau (Françoise Lebrun) und eines Mannes (Dario Argento) in ihrer Wohnung.

Getrennte Leben, geteiltes Bild: Sie (Françoise Lebrun) und Er (Dario Argento) in „Vortex“ Foto: Rapid Eye Movies

„Für alle, deren Hirn sich früher zersetzen wird als ihr Herz“, lautet die Widmung gleich zu Beginn von „Vortex“, dem neuen Film von Gaspar Noé, und sie setzt den Ton für eine unerwartet menschlich reife Auseinandersetzung mit dem Alter, dem Loslassen und dem Sterben. Der argentinische Skandalregisseur („Irreversibel“) zeigt in seinem berührenden Porträt ein altes Ehepaar am Ende seiner Tage (Françoise Lebrun und Dario Argento), das wie Michael Hanekes Film „Liebe“ fast ausschließlich im Pariser Appartement der Protagonisten spielt. Doch der filmische Ansatz ist bei Noé ein anderer: Die Leinwand teilt sich in zwei nebeneinander stehende Bildrahmen, eine Kamera folgt dem Mann, die andere seiner zunehmend dementen Frau und beobachtet, wie sich die beiden langsam verlieren. Zum virtuellen Gespräch schaltet sich der 56-Jährige aus seiner Wohnung in Paris zu.

„Vortex“. Regie: Gaspar Noé. Mit Françoise Lebrun, Dario Argento u. a. Frankreich/Belgien 2021, 142 Min.

taz: Monsieur Noé, Sie haben sich für unseren Videocall gerade als „Fritz Lang“ eingeloggt. Warum das?

Gaspar Noé: Ich möchte im Netz nicht als „Gaspar Noé“ auftauchen. Ich habe so viele merkwürdige Fans, darunter ein paar richtige Stalker, da trete ich lieber unter Pseudonym auf. Und weil ich besessen bin von Fritz Lang als Regisseur, überhaupt vom expressionistischen Film des Weimarer Kinos.

Eines Ihrer Idole, den italienischen Giallo-Filmer Dario Argento („Suspiria“), besetzten Sie auch als eine der beiden Hauptfiguren in Ihrem neuen Film.

Ich blickte immer ein bisschen neidisch auf Filmemacher, die es geschafft hatten, andere Regiekollegen als Darsteller vor die Kamera zu holen. Jean-Luc Godard hatte Fritz Lang in „Die Verachtung“ besetzt, Billy Wilder zuvor Erich von Stroheim in „Boulevard der Dämmerung“, Pasolini drehte einen Film mit Orson Welles. Ich träumte schon lange davon, einmal mit Dario zu drehen.

Warum ausgerechnet mit ihm?

Ich lernte Dario vor etwa 30 Jahren kennen, als ich beim Toronto-Filmfest meinen ersten 40-Minüter „Carne“ vorstellte. Dario war begeistert davon und wollte mich bei der Produktion meines ersten Langfilms unterstützen. Daraus ist dann zwar nichts geworden, aber wir freundeten uns an. Mir fiel immer wieder auf, wie charismatisch er ist, wenn er seine Filme vorstellt oder Interviews gibt. Er ist ein geborener Entertainer und Comedian, er weiß sein Publikum zu begeistern. Umso mehr überraschte es mich, dass ihn vor mir noch nie jemand gefragt hat, in einem Film mitzuspielen. Nur in seinen eigenen Filmen war er bislang zu sehen. Oder besser gesagt: seine Hände. Wenn ein Mord geschieht, eine Frau stranguliert oder erstochen wird, ist meist Dario selbst am Werk.

Auch Ihre bisherigen Filme wie „Menschenfeind“ oder „Climax“ waren wenig zimperlich, was Grenzüberschreitungen und Gewaltdarstellungen angeht …

Und Dario mochte sie alle sehr, sie waren ein Grund, warum er für „Vortex“ zusagte, auch wenn er zunächst protestierte, als ich ihm die Geschichte des alten Paares erzählte: „Ich bin doch gar nicht alt!“ Aber es interessierte ihn dann doch, er hatte gleich viele Ideen, wie man die Figur komplexer machen konnte. Er kam nach Paris, lernte seine Filmpartnerin Françoise Lebrun kennen und es war schnell klar, dass die beiden wunderbar harmonieren. Das war sehr hilfreich, weil ein Großteil des Films improvisiert ist.

„Vortex“ ist nun eine überraschende Abkehr von Ihren bisherigen Provokationen. Wie kam es dazu?

Ich hatte mehrere Gründe, mich mit dem Thema Sterben zu beschäftigen. Vor acht Jahren wurde meine Mutter dement und ich begleitete sie bis zu ihrem Tod. Mein alter Freund Philippe Nahon, der in vielen meiner Filme mitgespielt hatte, starb im April 2020 an Covid, nachdem er zuvor schon lange krank war. Auch der Vater meiner Freundin starb durch die Pandemie. Diese Erfahrungen haben mich erschüttert, ich dachte viel über das Leben und den Tod nach. Altwerden kann gnadenlos und grausam sein. Krankheiten kann man über­leben, aber das Alter ist ein Kampf, den man am Ende immer verliert. Man muss sehr mutig sein, sich dem zu stellen.

Der Regisseur Gaspar Noé wurde 1963 in Buenos Aires geboren. In Paris studierte er Philosophie und Filmwissenschaft. Sein Spielfilmdebüt „Menschenfeind“ lief 1998 in Cannes. Durch die brutalen Gewaltszenen in seinem zweiten Spielfilm „Irreversibel“ (2002), der in Cannes im Wettbewerb lief, gilt Noé seitdem als Enfant terrible des Kinos.

Waren Ihre eigenen gesundheitlichen Probleme auch ein Grund?

Vor zwei Jahren hatte ich eine Hirnblutung, die einige Tage lang lebensbedrohlich war. Es war ein Albtraum, weil nicht klar war, ob ich überleben würde, ob es irreparable Schäden gibt. Aber ich hatte großes Glück, ich gehöre zu den 15 Prozent, die ein solches Hämatom ohne bleibende Beeinträchtigungen überleben. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich habe aufgehört zu rauchen, ich nehme keine harten Drogen mehr, ich trinke sehr viel kontrollierter. Ich lebe gesünder.

Und Sie haben ein erstaunlich empathisches Kammerspiel über das Sterben gedreht.

Die Idee, die Handlung fast ausschließlich in der Wohnung spielen zu lassen, hatte auch mit dem Lockdown zu tun. Auf eine Art kann ich mich mit allen drei Charakteren identifizieren, der dementen Frau, dem filmbesessenen Ehemann, aber auch mit ihrem erwachsenen Junkie-Sohn. Aber die Geschichte ist nicht autobiografisch, auch wenn ich einige Situationen so oder ähnlich erlebt habe. Wir alle müssen uns früher oder später mit dem Alter und Sterben auseinandersetzen, in jeder Familie, ganz egal in welchem Land oder aus welcher Schicht wir stammen.

Sie inszenieren die Handlung als Splitscreen, eine Kamera folgt der Frau, die andere dem Mann. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Mir gefiel die Idee, das Geschehen simultan aus zwei Perspektiven zu erzählen. Aber ich wusste anfangs nicht, ob ich diese Aufteilung der Leinwand in zwei Bilder durch den gesamten Film benutze, oder nur für einzelne Szenen, wie einen Gimmick. Letztlich fällt nun nur der Prolog aus dem Konzept, den wir ganz am Ende drehten. Wir wollten damit einen Moment des Glücks zeigen, als es dem Paar noch gut geht, bevor ihnen das Leben langsam entgleitet.

Der Film endet mit einer Sequenz, in der die Wohnung ausgeräumt wird …

In den letzten Jahren musste ich selbst einige Wohnungen auflösen, dieser Anblick hat sich mir eingebrannt. Als ich die Gehirnblutung hatte und mir gesagt wurde, dass ich sterben könnte oder zumindest mit schweren bleibenden Schäden rechnen muss, dachte ich nicht an meinen Tod, sondern vor allem: Was passiert mit all meinen Büchern? Was mit den Filmplakaten? Ich kann noch nicht sterben, ich muss mich erst um all das Zeug kümmern! Das kann ich niemandem einfach so zurücklassen.

Wie würden Sie später selbst gerne in Erinnerung bleiben?

Darüber mache ich mir keine Gedanken. Aber mein Vater hat kürzlich aufgeschrieben, dass er in einem Sarg in die Familiengruft auf dem Friedhof in Buenos Aires will und nicht wie meine Mutter kremiert werden. Da wurde mir klar, dass ich auf keinen Fall in eine Kiste will. Meine Asche soll in alle Winde verstreut werden.

Wie haben Sie die Erfahrungen der letzten Jahre verändert? Wie blicken Sie in die Zukunft?

Ich plane nichts, ich handle instinktiv. Ich weiß noch nicht, was als Nächstes kommt. Nur eins ist gewiss: Ich will mich nicht wiederholen.

Sind Sie reifer geworden?

Hören Sie bloß auf! Auch ich bemerke natürlich Zeichen des Alters. Als ich zum ersten Mal nicht mehr entziffern konnte, was auf meinem Handydisplay stand, bekam ich einen richtigen Schreck. Und ich werde schneller betrunken als früher. Viel schneller.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

▶ Alle Grafiken

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.