Nach Hafen-Explosion im Libanon: Ohne Strafe keine Gerechtigkeit

Fast zwei Jahre nach der Explosion im Libanon haben Familien gegen Ex-Minister geklagt. An das politische und juristische System glauben nicht alle.

Vor dem zerstörten Silo am Beiruter Hafen protestiert eine Gruppe Menschen mit Plakaten in der Hand, darauf abgebildet sind Opfer der Explosion am Hafen in Beirut 2020.

Vor dem zerstörten Silo am Beiruter Hafen protestieren Verwandte von Opfern für Gerechtigkeit Foto: Bilal Hussein/ap

BEIRUT taz | Wenn Jad Hardini über seine Schwester Rita spricht, bahnen sich die Tränen ihren Weg: „Sie hat nicht verstanden, was Hass ist. Alles, was sie hatte, war Liebe. Sie liebte alle Menschen um sie herum und verbreitete immer gute Laune.“ Sie habe ihnen beigebracht, dass es auf innere Werte ankomme. Sie sei voller Freude gewesen, habe gescherzt, aber auch gerne die Kontrolle gehabt. Am Samstag ist die 20-Jährige Rita Hardini wohl infolge einer Verletzung durch die Explosion verstorben.

Die Familie Hardini lebt nur rund 800 Meter vom Beiruter Hafen entfernt. Am 4. August 2020 explodierten dort Hunderte Tonnen von Ammoniumnitrat. Die Druckwelle zerstörte weite Teile der Stadt, rund 30.000 Menschen verloren ihr Zuhause. Auch das Haus der Hardinis war zerstört. Ein goldener Kronleuchter hing in der Mitte des Wohnzimmers – er fiel bei der Explosion auf die Hand des Vaters. Rita musste alles mit ansehen, erzählt ihr Onkel – auch wie ihr Vater verletzt am Boden lag.

Rita wirkte zunächst nur leicht verletzt, ein Schnitt am Hals. „Nach der Explosion ist es für sie sehr schwer gewesen, ihren Vater verletzt zu sehen, zu sehen, was mit dem Haus passiert ist“, sagt Jad Hardini. Drei Wochen nach der Explosion habe sie „so etwas wie einen Blutknoten in ihrem Bein entwickelt“. Das habe einen Schlaganfall verursacht, außerdem habe sie eine Lungenfibrose und ein aufgeblasenes Herz bekommen. „Wir glauben, dass das durch den plötzlichen Schock verursacht wurde, den sie aufgrund der Explosion bekam.“

Rita Hardini hatte das Down-Syndrom. „Normalerweise haben diese schönen Menschen ein sehr weiches Herz“, sagt Hardini über seine Schwester. Mit Situationen wie diesen habe sie kaum umgehen können. Doch Rita kämpfte gegen die Folgen des Schlaganfalls an, erholte sich. Dann bekam sie eine Lungeninfektion, die ihr Immunsystem nicht besiegte. War Rita Hardini ein Opfer der Explosion am Beiruter Hafen? „Das nehmen wir an“, sagt er, denn vor der Explosion habe ihr nichts gefehlt.

Familien der Opfer reichen gemeinsam Klage ein

Mehr als 200 Menschen starben durch die Explosion. Die Familien der Opfer haben sich mittlerweile zu einer Gruppe zusammengeschlossen und vergangene Woche eine Klage eingereicht. Sie richtet sich gegen den ehemaligen Finanzminister Ali Hassan Khalil und den ehemaligen Minister für öffentliche Arbeiten und Verkehr, Ghazi Zeaiter, wegen „Willkür bei der Ausübung von Verteidigungsrechten“. Beide sind mächtige Männer in der schiitischen Amal Partei, eine Schwesterpartei der Hisbollah. Die Gruppen sind gegen den Untersuchungsrichter Tarek Bitar, weil sie ihn als „parteiisch“ ansehen.

Nicht nur Khalil und Zeaiter behindern Bitars Arbeit, auch der ehemalige Innenminister Nohad Machnouk, Ex-Verkehrsminister Youssef Fenianos sowie der zur Explosionszeit amtierende Regierungschef Hassan Diab klagen gegen den Richter. Die Untersuchung der Hafenexplosion ist deshalb zur Zeit ausgesetzt.

Der Zusammenschluss der Familien der Opfer hat sich für eine Klage gegen Khalil und Zeaiter entschieden, weil die sich am meisten der Behinderung der Ermittlungen schuldig gemacht hätten. Der Untersuchungsrichter hatte sowohl gegen Khalil als auch gegen Zeaiter einen Haftbefehl erlassen, weil sie nicht zu Befragungen kamen. Die Anwälte, die die Klage eingereicht haben, fordern eine Geldstrafe von 100 Milliarden Lira (rund 3,5 Millionen Euro). Sie sagten der libanesischen Zeitung L’Orient-Le Jour, dass sie den beiden „böse Absicht und Rechtsmissbrauch“ nachweisen wollten.

Zusammen stemmen 13 Familien die Klage, sagt Mariana Fodoulian. Sie ist Teil des Zusammenschlusses und hat bei der Explosion ihre Schwester verloren. „Alles, was sie tun, ist irgendwelche Gründe zu kreieren, um die Untersuchung zu stoppen.“ Hätten sie wirklich nichts mit der Sache zu tun, würden die Angeklagten Beweise vorbringen, so Fodoulian. Zur Rechenschaft gezogen wurde bislang niemand aus den oberen politischen Reihen, auch einen Bericht der Untersuchungskommission gibt es nicht.

„Keiner aus der Regierung unternimmt etwas“

Dank journalistischer Recherchen ist zumindest bekannt, wie die Fracht nach Beirut kam: Eine ukrainisch-russische Crew hatte sie im Jahr 2013 auf dem Tanker „Rhosus“ geladen, um sie zu einem Sprengstoffhersteller in Mosambik zu transportieren. Das Schiff verließ einen Hafen in Georgien, bevor libanesische Behörden der „Rhosus“ in Beirut wegen Sicherheitsmängeln die Weiterfahrt untersagten. Libanesische Jour­na­lis­t*in­nen fanden heraus, dass die Ladung des Schiffes einer in Großbritannien registrierten Firma namens Savaro Ltd gehörte, hinter der zwei syrische Geschäftsmänner mit Kontakten zur syrischen Regierung stecken. Das Regime von Baschar al-Assad ist eng mit der Hisbollah verbandelt. Es ist also durchaus möglich, dass die Fracht gar nicht für Mosambik bestimmt war – sondern für die Hisbollah.

„Das Problem ist, dass keiner aus der Regierung etwas unternimmt“, sagt Fodoulian in Hinblick auf den Stillstand der Explosions-Untersuchung. „Alle sind beteiligt.“ Fodoulian hat ihren Job aufgegeben, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Ihr Arbeitgeber habe kein Verständnis gezeigt: „Sie verstehen nicht wirklich, was diese Gerechtigkeit ist, die wir fordern. Wir fordern sie nicht nur für uns oder die Opfer, sondern für alle Libanes*innen. Weil wir alle wissen, dass wir in im Libanon niemals Gerechtigkeit bekommen werden, wenn die Verursacher unbestraft bleiben.“

Straflosigkeit hat im Libanon Tradition: Seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1943 sind mindestens 220 politische Morde und Mordversuche dokumentiert. Die wenigsten Täter wurden identifiziert und angeklagt.

Jad Hardini möchte sich dem Zusammenschluss der Opfer-Familien nicht anschließen. Unter anderem, weil er seine Schwester nicht als direktes Explosionsoper sieht. Aber auch, weil er die politische Elite für mächtig und gefährlich hält. Die etablierten politischen Parteien seien mafiös strukturiert, mit Allianzen und Verbündeten aus dem Ausland. „Ich glaube, dass das zu nichts führen wird. Ob ich dem Verbund beitrete oder nicht, meine Schwester ist nicht mehr hier bei uns.“ Warum solle er Energie in etwas stecken, von dem er denke, dass es nirgendwohin führe, fragt er. „Soll ich mein ganzes Leben lang kämpfen?“

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