Warnsirene in Schönkirchen

Auf dem Dach der Bäckerei in Schönkirchen befindet sich eine von wenigen Warnsirenen Foto: Andreas Oetker-Kast

Katastrophenschutz in Deutschland:Wenn es ganz dicke kommt

Warnsirenen wurden abgebaut, Luftschutzbunker zugeschüttet. Doch die Katastrophen nehmen wieder zu – und man fragt sich: Sind wir gut geschützt?

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11.4.2022, 12:46  Uhr

WWWWOOOOOOoooooo… – Gerd Radisch hebt den Finger, um auf ein Geräusch aufmerksam zu machen, das ohnehin nicht zu überhören ist. OOOOOooooouuuuu, heult es weiter, ehe das Geräusch irgendwann verstummt. Es ist 12 Uhr an einem Samstag Ende März in Schönkirchen, einer Gemeinde, die nordöstlich an Kiel grenzt. „Jetzt wissen alle, dass Wochenende ist“, sagt Radisch, 68 Jahre, und schmunzelt. Seit sechs Jahren ist er Bürgermeister der rund 7.000 Ein­woh­ne­r:in­nen Schönkirchens. Und man merkt, dass er den Witz mit dem Wochenende nicht zum ersten Mal macht.

Das laute, lang gezogene Geräusch, auf das Radisch hingewiesen hat, stammt von einer Warnsirene. Sie soll die Schön­kirch­ene­r:in­nen natürlich nicht daran erinnern, dass sie heute nicht zur Arbeit müssen und sich entspannt in den Garten legen können. Im Grunde soll sie nur darauf aufmerksam machen, dass sie noch da ist. Dass sie funktioniert und warnen könnte – falls es sein muss. Falls ein Hochwasser Straßen und Häuser umspült, falls es ein größeres Gasleck im Gemeindewerk geben sollte oder auch, falls ein Luftangriff droht.

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Dass die Sirene hier, auf dem Dach der Bäckerin Rosemarie Blöcker, gleich gegenüber der Gemeindekirche, überhaupt noch existiert, ist nicht selbstverständlich. Anfang der Neunzigerjahre umfasste das Sirenennetz in Deutschland noch rund 80.000 Standorte. Im Jahr 2018 konnten laut dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) gerade noch 15.000 Sirenen ein Bevölkerungswarnsignal senden.

Die meisten Warnsirenen wurden in den vergangenen 30 Jahren abgebaut, andere wurden abgeschaltet. Nach der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion wähnte sich nicht nur der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama am „Ende der Geschichte“ und damit am Ende der großen Kriegsgefahr. Alarmsirenen? Brauchte es nicht mehr in dieser schönen, friedlichen neuen Welt.

In Schönkirchen hat man sich Anfang der Neunziger dennoch gegen den Abbau der insgesamt fünf Sirenen in der Gemeinde entschieden. Warum? „Wir haben einfach die Gegenfrage gestellt“, sagt Radisch. „Warum sollten wir sie abbauen?“ Zehn Sekunden dauert das Warnsignal jeden Samstag. Dass sich mal jemand über das Geräusch beschwert habe, daran kann Radisch sich nicht erinnern. Doch der Bürgermeister will gar nicht in erster Linie über die Warnsirene sprechen. Ihm geht es um das, was danach folgt: Um den Schutz der Bürger:innen. Um den macht sich Radisch – trotz Sirenen – Sorgen.

Es ist nicht so, dass er seine Gemeinde für vollkommen schutzlos hält. Ein Starkregen-Ereignis im vergangenen Jahr, die bisherigen Hochphasen der Coronapandemie, auch die hin und wieder notwendigen Bombenentschärfungen habe man bisher – alles in allem – ganz gut gemeistert. „Aber was ist, wenn es mal dicke kommt?“, fragt er. „Dann sitzen wir hier wie das Kaninchen vor der Schlange.“

Die Frage, wie gut die Menschen in Deutschland vor Großgefahren geschützt sind, wird von Jahr zu Jahr lauter gestellt. Denn dass es „dicke“ kommt, wie Radisch sagen würde, wird wahrscheinlicher. Klimakrise, Pandemie und nun auch noch Kriegsgefahr und Kriegsfolgen. In einem Zeitalter, in dem – wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach kürzlich sagte – „die Katastrophe die neue Normalität ist“, sollte man annehmen, dass auch der Schutz der Bevölkerung zum politischen Alltag, zur Normalität gehört. Aber stimmt das?

Folgt man Radisch, dann liegt beim Bevölkerungsschutz in Deutschland einiges im Argen. Formal ist seine Gemeinde für diesen gar nicht zuständig. Für die allermeisten Katastrophenfälle sind in Deutschland die Kreise beziehungsweise Landkreise zuständig. Sie rufen den Katastrophenfall aus, organisieren und leiten die Krisenstäbe. Sie haben auch die Aufgabe, zu schauen, welche Katastrophen überhaupt auftreten können, wer sie womit bekämpfen und wie die Bevölkerung vor Gefahren geschützt werden kann. Das jeweilige Bundesland unterstützt und kann in Extremfällen auch selbst den Katastrophenfall ausrufen. Geregelt sind die Aufgaben und Zuständigkeiten in den Katastrophenschutzgesetzen der Länder.

Das Problem ist: Radisch traut diesen Strukturen nicht. So lägen ihm die Katastrophenschutzpläne des zuständigen Landkreises Plön gar nicht vor, sagt er. Und tatsächlich macht der Versuch, die Pläne einzusehen, stutzig. Auf eine Bitte bei der Verwaltung, einem die ausgearbeiteten Pläne zu schicken, heißt es, dass man diese Anfrage aktuell nicht so einfach bedienen könne. Auf den Hinweis, dass die Pläne laut Landeskatastrophenschutzgesetz zur Einsicht ausliegen müssen, sagt eine Mitarbeiterin am Telefon: „Im Gesetz steht viel.“

Die Frage nach dem Zustand des Bevölkerungsschutzes ist komplex. Katastrophen haben unzählige Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen. Es gibt Naturkatastrophen wie Erdbeben, Stürme, Hochwasser, Hitze oder Waldbrände – teils vom Menschen verursacht, teils durch ihn verstärkt. Es gibt technische Katastrophen. Industrieunfälle, Zugunglücke, Flugzeugabstürze. Und es gibt Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen – auch und gerade für die Zivilbevölkerung.

Dazu kommt, dass eine singuläre Katastrophe sehr viele verschiedene katastrophale Folgen nach sich ziehen kann. Nach dem Ahrtal-Hochwasser 2021 kam es zu flächendeckenden Stromausfällen, die Trinkwasserversorgung war unterbrochen, viele Pa­ti­en­t:in­nen kamen nicht an ihre Medikamente. Heizöl und Benzin lief vielerorts aus. Es drohte die nächste Umweltkatastrophe.

Das bedeutet aber auch, dass man sich auf keine Katastrophe im Detail vorbereiten kann. Man merkt dies unter anderem an der Formulierung in dem entsprechenden Gesetz zum Katastrophenschutz in Schleswig-Holstein: „Eine Katastrophe […] ist ein Ereignis, welches das Leben, die Gesundheit oder die lebensnotwendige Versorgung zahlreicher Menschen […] in so außergewöhnlichem Maße gefährdet oder schädigt, dass Hilfe und Schutz wirksam nur gewährt werden können, wenn verschiedene Einheiten und Einrichtungen des Katastrophenschutzdienstes […] zusammenwirken.“

Nicht das Ereignis bestimmt also, was eine Katastrophe ist, sondern die Reaktionsfähigkeit des Staates, seine Überforderung.

Was der Staat kann und muss, ist Strukturen schaffen, die die Überforderung in Grenzen halten. Formal besteht der Bevölkerungsschutz in Deutschland aus zwei Bereichen: Dem Zivilschutz im Kriegsfall. Und dem Katastrophenschutz für alle Katastrophen, die in Friedenszeiten auftreten. Der Bund ist für ersteres zuständig, die Länder für letzteres.

Die Unterscheidung zwischen Katastrophen- und Zivilschutz ist historisch gewachsen, laut zahlreicher Ex­per­t:in­nen jedoch nicht mehr zeitgemäß. Operativ greifen Katastrophen- und Zivilschutzeinheiten ohnehin längst ineinander. Der Bund packt mit der Bundeswehr und dem Technischen Hilfswerk bei Naturkatastrophen mit an. Katastrophenschutzeinheiten wie das Deutsche Rote Kreuz würden auch im Kriegsfall tätig werden.

Martin Voss, Katastrophenforscher

„In komplexen Katastrophen können Probleme nicht verwaltungsmäßig abgearbeitet werden“

Rückgrat des Katastrophenschutzes sind die Feuerwehren mit ihren über eine Million Mitgliedern. Dazu kommen Polizei, private Hilfsorganisationen, gegebenenfalls Gesundheitseinrichtungen, und immer wieder ein Heer von freiwilligen Helferinnen und Helfern.

Auf den ersten Blick wirkt das alles recht gut organisiert. Doch nicht nur Bürgermeister Radisch, sondern auch Menschen, die sich tagein, tagaus mit nichts anderem als Bevölkerungsschutz beschäftigen, zeichnen ein eher düsteres Bild von der zivilen Wehrhaftigkeit des Staates.

An einem Mittwoch Mitte März sitzt Martin Voss in seinem Büro am Institut für Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Voss leitet die Katastrophenforschungsstelle an der Universität und ist pessimistisch, was den Zustand des hiesigen Bevölkerungsschutzes angeht. „Es gibt ein formelles Arrangement, aber die Praxis ist davon weitgehend entkoppelt. Die damit verbundenen Probleme müssen die vielen Akteure mit all ihrem Engagement ausgleichen.“

Voss ist Soziologe, die Forschungsstelle ist interdisziplinär angelegt, hat aber einen klaren sozialwissenschaftlichen Fokus. Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen, dass Voss und seine Kol­le­g:in­nen sich nicht fragen, wie viele Pumpen, Sandsäcke und Einsatzkräfte es bei einem bestimmten Pegelstand in einer bestimmten Region braucht, sondern wie solche Entscheidungen zustande kommen, warum sie wann, wie und von wem getroffen werden.

Seinen Pessimismus macht Voss am Beispiel der Krisenstäbe deutlich, also dem zentralen Beratungs- und Kommunikationsgremium in Katastrophenfällen. Das Know-how der Beteiligten sei nicht das Problem, aber oftmals seien die verschiedenen Ex­per­t:in­nen gar nicht in der Lage, miteinander zu kommunizieren, da sie außer in Katastrophenfällen und gelegentlichen Übungen nur selten miteinander in Kontakt kämen. „In komplexen Katastrophen können Probleme nicht verwaltungsmäßig abgearbeitet werden“, sagt Voss.

„Man bekommt kein Bild vom großen Ganzen, nur weil man verschiedene Spezialisten zusammenführt. Dazu braucht es besondere Kompetenzen, sozusagen Generalisten, die wir uns aber nicht mehr leisten.“

Nun will Voss nicht nur den Mahner geben, sondern hat auch einen Vorschlag erarbeitet, wie es aus seiner Sicht besser funktionieren könnte. Er hat dafür ein Konzept erarbeitet, das sich „Kompetenzhubs Resilienz und Schutz der Bevölkerung“ nennt. Dieses sieht im Kern die Einführung jener Generalisten vor, die laut Voss so dringend fehlen. Jedem Landrat müssten zwei bis drei Ex­per­t:in­nen zur Seite gestellt werden, die sich mit den spezifischen Gefahren vor Ort auskennen und – das sei entscheidend – gemeinsam Konzepte zur Gefahrenabwehr, aber auch zur Vorsorge entwickeln. Gleiches gilt für die In­nen­mi­nis­te­r:in­nen der Länder und die Bundesebene.

„Es ist zwar die Aufgabe einer Landrätin oder eines Landrates, den Katastrophenschutz politisch zu leiten, aber sie oder er hat dafür aktuell nicht die Ressourcen und viel zu viele andere Aufgaben“, sagt Voss. Er hofft, dass die Experten-Hubs diese Strukturen aufbrechen, Bür­ge­r:in­nen für Gefahren sensibilisieren und so auch wieder für ein Risikobewusstsein in der Gesellschaft sorgen könnten. Voss taxiert die Kosten für ein solches Projekt auf einen mittleren bis höheren zweistelligen Millionenbetrag, was angesichts der auf 12,5 Milliarden Euro bezifferten Summe an Sachschäden in Folge des Hochwassers 2021 nicht größenwahnsinnig klingt.

Das Konzept klingt erst mal wenig revolutionär, aber es wäre laut Voss ein radikaler Bruch damit, wie in Deutschland Bevölkerungsschutz gedacht wird: nicht wie bisher als Reaktion auf vergangene Katastrophen, sondern als Vorsorge auf mögliche künftige Szenarien.

Bürgermeister Gerd Radisch steht in der Turnhalle, die zum Katastrophenschutzzentrum werden soll

Bürgermeister Gerd Radisch im zukünftigen Katastrophenschutzzentrum seiner Gemeinde Foto: Andreas Oetker-Kast

Es gibt jedoch Orte, wo durchaus schon im Sinne von Voss gedacht wird: Gerd Radisch, der Bürgermeister von Schönkirchen, steht zum Zeitpunkt des Sirenengeheuls mit einem Tablet in der Hand in einer der zwei Turnhallen der Gemeinde, einem Klinkerbau, der an die Schule anschließt. Inmitten eines Parcours mit Hindernissen aus Matten, Sprungkästen und Bänken sagt er: „Das hier soll mal unser Katastrophenschutzzentrum werden.“

Beide Turnhallen will Radisch so herrichten lassen, dass hier im Ernstfall bis zu 150 Menschen über mehrere Tage untergebracht werden können. Das Szenario, an das er dabei denkt, ist ein flächendeckender und langanhaltender Stromausfall, ein Blackout. Die Turnhallen sollen ein eigenes Blockheizkraftwerk bekommen, sodass sie autark mit Strom und Wärme versorgt werden können. Einen entsprechenden Auftrag an die Gemeindewerke Schönkirchen habe die Gemeindevertretung bereits vergeben, sagt Radisch.

Gerd Radisch, Bürgermeister

„Wir haben in den vergangenen Jahren mehr als eine Million Euro für den Hochwasserschutz ausgegeben“

Die Turnhalle ist nicht das erste Projekt, das in Schönkirchen für den Katastrophenschutz umgesetzt wurde. Mittlerweile hat Radisch das Gebäude verlassen und läuft einen Fußballplatz entlang in Richtung des Kiebitzbeks, einem kleinen Bach am Rande der Ortschaft. Er will hier zeigen, ja beweisen, warum sich Vorsorge aus seiner Sicht lohnt und warum sie notwendig ist.

Der Kiebitzbek ist wenig mehr als ein Rinnsal. Radisch schlägt die Schutzklappe seines Tablets zurück, um ein Video zu zeigen. Darauf sieht man den Kiebitzbek, wie er mit großer Geschwindigkeit am Fußballplatz vorbeirauscht. Der Pegel knapp unter der Grasnarbe. Das sei vor einem Jahr gewesen. Und es wäre schlimmer gekommen, wenn die Gemeinde nicht vorgesorgt hätte, sagt Radisch.

Er läuft ein Stück weiter zu einer kleinen Brücke und zeigt auf die zwei darunterliegenden Durchflussrohre. Das zweite habe man erst vor zwei Jahren angelegt, um eine Stauung des Wassers zu verhindern. Noch weiter bachaufwärts, man steht mittlerweile im Wald, zeigt Radisch mehrere Findlinge, die man rangeschafft habe, damit sich das Wasser im Ernstfall hier stauen und im Waldboden versickern kann. „Wir haben in den vergangenen Jahren mehr als eine Million Euro für den Hochwasserschutz ausgegeben“, sagt Radisch.

Fragt man ihn, warum ihn der Katastrophenschutz so umtreibt, erzählt er von zwei Ereignissen. Als 8-jähriges Kind erlebte er in Hamburg im Jahr 1962 die Sturmflut. Seine Familie sei zwar nicht direkt betroffen gewesen, sie hätten aber die ganze Nacht den Polizeifunk verfolgt und natürlich das Ausmaß der Zerstörung gesehen. Später als Soldat war Radisch im Einsatz bei der Schneekatastrophe im Winter 1978/79. „Vielleicht hat mich das für den Katastrophenschutz sensibilisiert“, sagt er.

Zur Wahrheit gehört aber auch das: Schönkirchen ist seit mehreren Jahren schuldenfrei. Geld war bei all den Vorhaben zum Katastrophenschutz nie ein K. O.-Kriterium. Dennoch legt Radisch Wert darauf, dass seine Gemeinde nicht einfach wahllos irgendwelche Schutzvorrichtungen plant. Beim Hochwasserschutz sei man Prognosen gefolgt. Das Hochwasser, das Radisch auf seinem Tablet gezeigt hat, sei ein sogenanntes 30-jähriges Ereignis gewesen, trete also den Erfahrungen der Vergangenheit nach alle 30 Jahre einmal auf. Mit anderen Worten: Man wusste, dass es kommt. Man wusste nur nicht, wann.

Dass Radisch nun auch die Turnhalle aufrüsten will, geht auf einen Vortrag der Feuerwehr Neumünster aus dem Jahr 2020 zurück. Dort zeigte man interessierten Kommunalpolitiker:innen, welche desaströsen Folgen ein Blackout haben kann: von der Unterbrechung der Trinkwasserversorgung über den Zusammenbruch des Kommunikationssystems bis zum Ausfall von Tankstellen, sodass keine Rettungsfahrzeuge mehr betankt werden können – all das habe ihn tief beeindruckt, erzählt Radisch.

Ein solches Szenario halten Ex­per­t:in­nen zumindest in der Zukunft nicht für unplausibel. Denn so ein Blackout ist häufig die Folge von einer vorangegangenen Katastrophe wie einem verheerenden Unwetter, einem Cyberangriff oder einem Krieg.

Und doch erklärte Albrecht Broemme, Vorsitzender des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit, eines Thinktanks im Bereich Katastrophenschutz, kürzlich in der Tagesschau: „Auf einen Blackout ist Deutschland überhaupt nicht vorbereitet.“ Die Sensibilität für die Folgen eines solchen Stromausfalls sei in keiner gesellschaftlichen Gruppe vorhanden.

Die mangelnde Vorbereitung betrifft noch weitere Bereiche. Nicht, dass es in Deutschland an Szenarien für mögliche Katastrophen fehlt. Das Problem ist: Sie bleiben meist folgenlos.

Die verschiedenen Übungen, in denen ein Pandemieausbruch und seine Folgen durchgespielt wurden, sind mittlerweile oft zitiert worden. 2007 fand unter Federführung des BBK eine sogenannte LÜKEX statt, eine „Länder- und Ressortübergreifende Krisenmanagementübung (Exercise)“. Übungsthema: Ausbruch einer Grippepandemie. Im Anschluss stellte man unter anderem „Optimierungsbedarf“ beim „Meldewesen, Ressourcenmanagement und Informationsmanagement“ fest. Im Januar 2013 erhielten die Mitglieder des Bundestags eine vom Robert Koch-Institut ausgearbeitete „Risikoanalyse Bevölkerungsschutz – Pandemie durch Virus Modi-SARS“. Und im Mai 2017 übten die Gesundheitsminister der G20-Staaten den fiktiven Fall eines Ausbruchs des „Mars-Virus“.

Zwei Sanitäter transportieren einen Mann auf einer Krankenliege im Rahmen einer Großübung der Medical Task Forces

Geübt wird viel. Nur es müsste mehr daraus folgen, wünschen sich Ex­per­t:in­nen Foto: imago

Trotz dieser drei Übungen mit teils sehr konkreten Empfehlungen im Anschluss fehlten Deutschland beim Pandemie-Ausbruch 2020 nicht nur Masken und andere Schutzausrüstung, es fehlte auch an den strukturellen Voraussetzungen. Das Infektionsschutzgesetz war weitgehend unbrauchbar für den eingetretenen Fall und musste eilig durch den Rechtsbegriff „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ ergänzt werden, damit der Bund überhaupt tätig werden konnte.

Es lassen sich Beispiele aus anderen Bereichen anführen. Aktuell wird in vielen Medien die LÜKEX-Übung von 2018 zu einer Gasmangel-Lage hervorgeholt. Auch sie blieb weitgehend folgenlos. Ein Gesetz, das Mindestfüllmengen in Gasspeichern vorschreibt, wurde erst hektisch vor wenigen Wochen im Bundestag beschlossen, als ein Gasembargo gegen Russland wahrscheinlicher wurde.

Das Problem eines unzureichenden Katastrophenschutzes ist auch eines der politischen Verantwortung. Es gibt diesen Spruch: „There is no glory in prevention“. Anders könnte man sagen: Mit Vorsorge lassen sich keine Wahlen gewinnen. Vielleicht noch entscheidender ist aber: Mit fehlender Vorsorge verliert auch kaum jemand eine Wahl.

Nun ist der Bevölkerungsschutz, wie gesagt, komplex. Dazu gehört, dass Deutschland einerseits zwar unzureichend auf viele Katastrophenszenarien vorbereitet ist, andererseits die Menschen sicher nicht schutzlos gegenüber Katastrophen sind. Das Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit, dessen Leiter mit so großer Sorge auf mögliche Blackouts schaut, veröffentlichte 2020 ein „Grünbuch zur Öffentlichen Sicherheit“. Darin heißt es: „Deutschland ist im Bevölkerungsschutz grundsätzlich gut aufgestellt.“ Aus der föderalen Struktur folgten in der Regel „bedarfsorientierte und lokal adäquate (Re-)Aktionen, eine erleichterte Einbindung von Ehrenamtlichen und bürgernahe Entscheidungen“, lobt der Bericht.

Vor allem haben Politik und Blaulicht-Einheiten auch viel aus vergangenen Katastrophen gelernt. Eine Sturmflut, wie Gerd Radisch sie 1962 in Hamburg miterlebte, würde heute sehr wahrscheinlich keine 315 Todesopfer mehr fordern. Deiche wurden verbessert, Wettervorhersagen und -prognosen sind präziser und die Kommunikation ist schneller und umfassender. Auch ein Katastrophenschutzgesetz kannte Hamburg 1962 noch nicht. Die Orkantiefs Ylenia und Zeynep, die Mitte Februar diesen Jahres über Nord- und Westdeutschland peitschten, sind auch deswegen von den meisten schon wieder vergessen, weil sie groß angekündigt, gut vorbereitet und Hilfseinsätze schnell organisiert wurden.

Allerdings bringe diese relative Sicherheit ein neues Problem mit sich, sagt Katastrophenforscher Martin Voss von der FU Berlin. „Es hat ein Verlernprozess stattgefunden“, sagt er. „Wir haben seit Jahrzehnten Resilienz abgebaut.“

Das betrifft nicht nur, aber doch vor allem den Bereich des Zivilschutzes, also den Schutz der Bevölkerung im Kriegsfall. Ein ranghoher Vertreter, der auf Bundesebene mit dem Zivilschutz befasst ist, sagt zur taz: „Wenn man ehrlich ist, müssen wir hier die Hosen runter lassen und sagen: Wir sind blank.“

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden nicht nur Warnsirenen abgebaut. „Öffentliche Schutzräume wie z. B. Luftschutzbunker gibt es nicht mehr“, steht auf der Seite des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Nach einem gemeinsamen Beschluss von Bund und Ländern im Jahr 2007 wurden viele Hochbunker zu Wohnhäusern umgebaut. Andere werden als Kulturveranstaltungsorte genutzt oder wurden mit Zement zugeschüttet. Im Falle eines Angriffs empfiehlt das BBK, „innenliegende Räume mit möglichst wenigen Außenwänden, Türen und Fenstern“ aufzusuchen.

Die gefühlte Sicherheit ging so weit, dass der Vorgänger des BBK, das ehemalige Bundesamt für Zivilschutz, Anfang der Nullerjahre weggespart wurde und das Thema Zivilschutz fortan von einer Unterabteilung des Bundesverwaltungsamts bearbeitet wurde. Dann kam der 11. September und hat zumindest für ein graduelles Umdenken gesorgt, in dessen Folge entstand 2004 das heutige Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.

Doch die Möglichkeit eines Krieges spielte bei den großen Übungen kaum eine Rolle mehr. „Da haben wir in den letzten Jahren – gut nachvollziehbar für mich – das Thema Krieg ausgeklammert“, sagt ein mit dem Zivilschutz betrauter Mitarbeiter, der anonym bleiben möchte. „Das fällt einem jetzt auf die Füße, das ist so. Wir ringen um klare Empfehlungen, um klare Formulierungen.“

Dabei muss sicher einschränkend festgehalten werden, dass die Katastrophenschutzeinheiten der Länder dem Bund selbstverständlich auch im Kriegsfall zur Verfügung stünden. Zum anderen sorgt der Bund zumindest ein wenig vor. So gibt es eine 90-tägige Reserve für Öl, eine für wenige Tage bis mehrere Wochen haltende Nahrungsmittelreserve und – im Falle eines nuklearen Angriffs oder eines Reaktorunfalls – einen Vorrat an rund 190 Millionen Jodtabletten. Eine Gesundheitsreserve mit Schutzausrüstung, Schutzmasken, Beatmungsgeräten und Medikamenten befindet sich seit der Coronapandemie im Aufbau. Doch die Frage, inwieweit die Mittel im Ernstfall effizient verteilt werden könnten, steht zumindest im Raum.

Viel Platz auf der Webseite des BBK nimmt ohnehin ein anderes Thema ein: Selbstschutz und Selbsthilfefähigkeit. Es gibt Anleitungen, was in die Hausapotheke gehört, Hinweise, wo man seine Erste-Hilfe-Kenntnisse auffrischen kann und natürlich die Empfehlung zum Anlegen eines Nahrungsvorrats. Mit einem Werbevideo, das man auf YouTube anschauen kann und auf dem rotäugige Killer-Kaninchen eine alte Frau anzugreifen drohen, wirbt das BBK dafür, immer ein Notfall-Gepäck mit Medikamenten, Nahrung, warmer Kleidung und Hygieneartikeln zur Hand zu haben.

Doch in relativer Sicherheit haben es Appelle an die individuelle Vorsorge schwer. Als der damalige Innenminister Thomas de Maizière 2016 die „Konzeption Zivile Verteidigung“ vorstellte, ging es vor allem darum, den Zivil- und Katastrophenschutz enger zu verzahnen und Doppelstrukturen aufzulösen. Doch diese Inhalte drangen kaum durch, weil in dem Konzept an einer Stelle der Hinweis an die Bevölkerung stand, sich einen 10-Tages-Vorrat an Lebensmitteln und Trinkwasserversorgung für den Ernstfall zuzulegen. Obwohl diese Empfehlung nicht neu war und aus heutiger Sicht auf einmal sehr vorausschauend wirkt, stürzten sich Medien und Oppositionspolitiker auf diesen einen, kurzen Satz in dem 70-seitigen Papier. Dem Minister wurde Panikmache vorgeworfen.

Anruf bei Christian Kuhlicke, Professor für Umweltrisiken und Nachhaltigkeit an der Universität Potsdam. Kuhlicke forscht zum Thema Verhaltensvorsorge. Er sagt: „Um in Anpassung und Vorsorge zu investieren, braucht es sowohl ein Gefühl der Bedrohung als auch die Überzeugung, dass Vorsorge wirksam ist.“

Wie Martin Voss sieht auch Kuhlicke einen Verlernprozess. Wer über 70 Jahre in Frieden lebt, denkt, dass er keine Sirenen mehr braucht. Bis ein Krieg kommt, bis das Hochwasser da ist.

Kuhlicke hat sich intensiv mit dem Elbehochwasser von 2002 beschäftigt. Seine Doktorarbeit trug den Titel „Verwundbarkeit und Nichtwissen: Das Hochwasser von 2002 als radikale Überraschung“. Kuhlicke wollte wissen, wie Menschen, die mitten in einer Flussaue leben, so von einem Hochwasser überrascht werden konnten, warum Evakuierungsaufforderungen ignoriert wurden.

Er führte viele Gespräche mit Betroffenen, deren Ergebnisse er so zusammenfasst: „Die ganze Erfahrung und Institutionen haben etwas anderes suggeriert. Es gab ein gutes Deichsystem, das bisher erfolgreich kleinere Hochwasser zurückhalten hat, auch größere Hochwasser von 1954 und 1974 wurden gut überstanden. Auch darum wurden die angekündigten Pegelstände für unplausibel gehalten. Sie waren schlicht nicht mit den eigenen Erfahrungen in Einklang zu bringen.“

Kuhlicke stellte aber auch fest, dass das Erfahrungswissen nach der Katastrophe gewachsen sei. Hätten vorher nur etwa 15 Prozent der Be­woh­ne­r:in­nen Verhaltensvorsorge betrieben, seien es 2015 bereits knapp 50 Prozent gewesen. Das Land Sachsen hat ein Kompetenzzentrum Hochwassereigenvorsorge gegründet. Die Sächsische Aufbaubank vergibt Kredite für Maßnahmen zur privaten Hochwassereigenvorsorge. „Lernprozesse finden statt“, sagt Kuhlicke. „Die Erfahrung ändert etwas.“

Gerd Radisch am Kiebitzbek. Hier wurde seine Gemeinde wegen Hochwassergefahr aktiv

Gerd Radisch am Kiebitzbek. Hier wurde seine Gemeinde wegen Hochwassergefahr aktiv Foto: Andreas Oetker-Kast

Nur erwächst aus dieser Erkenntnis eine recht deprimierende Schlussfolgerung: Es muss erst dicke kommen, bevor Vorsorge zur Norm wird. Ohne Hochwasser keine Deiche. Ohne Krieg keine Bunker. Kuhlicke beobacht aber auch, dass man vielerorts versuche, aus der Erfahrungsspirale auszubrechen.

Es lassen sich aktuell einige Beispiele für diese Beobachtung finden: Auf Bundesebene kursiert ein noch nicht veröffentlichtes Papier, in dem angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine von einer weiteren finanziellen Stärkung der Zivilen Verteidigung in Höhe von zehn Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren die Rede ist. Bereits beschlossen wurde nach dem Hochwasser von 2021, dass der Wiederaufbau der Warnsirenen bundesweit mit 90 Millionen Euro gefördert wird.

In Schleswig-Holstein wurde nach dem Hochwasser im Ahrtal ein Zehn-Punkte-Plan für den Katastrophenschutz erarbeitet. 35 Millionen Euro sollen unter anderem in die Modernisierung der Rettungsmittel, die Ertüchtigung der Ausbildung und ein neues Lage- und Kompetenzzentrum fließen. Darüber hinaus soll ein Katastrophenschutzlager mit Hygieneartikeln, Lebensmitteln, Feldbetten und anderen Ressourcen entstehen. Das BBK schließlich will am 1. Juni das neue „Gemeinsame Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz“ eröffnen, in dem die Bund-Länder-Zusammenarbeit verstetigt und ausgebaut werden soll.

Für den Katastrophenforscher Voss sind all das nur kosmetische Verbesserungen. Er glaubt nicht, dass man den Katastrophenschutz mit Reformen an bestehenden Strukturen noch fit für die Zukunft machen kann. Die Handlung von „Don’t look Up“ – ein Film, in dem ein Asteorid letztendlich die Erde zerstört, obwohl alles Wissen und alle Technik für eine Gefahrenabwehr vorhanden war – hält er für gar nicht so weit hergeholt: „Als Katastrophensoziologe fand ich den gar nicht so originell.“

Gerd Radisch schließlich, der Bürgermeister aus Schönkirchen, befürchtet, dass das „Dicke“ zu früh kommen könnte: „Ich sehe uns gut aufgestellt. Meine Sorge ist nur, dass wir nicht rechtzeitig fertig werden mit unserem Katastrophenschutzzentrum“, sagt er zum Abschied.

Vielleicht lässt sich der Stand beim Bevölkerungsschutz am besten so illustrieren: Seit 2004 findet in Deutschland alle zwei bis drei Jahre eine große Bevölkerungsschutzübung statt, die bereits erwähnten LÜKEX. Nur sind zwei der vergangenen drei LÜKEX ausgefallen. 2015 aufgrund der Vielzahl an Geflüchteten, die nach Deutschland kamen. 2021 wegen der Coronapandemie. Die realen Krisen haben die fiktiven Katastrophenszenarien längst eingeholt.

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