Zentrum für Krebsforschung: Patienten mit einbeziehen

Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen wurde vor fast zwei Jahrzehnten gegründet. Jetzt kommen vier neue Standorte hinzu.

Ein Laborantin mit Mundschutz und Schutzhandschuhe pipettiert eine Flüssigkeit in ein Mikroreaktionsgefäß

Immunologische Forschung im Labor Foto: Rupert Oberhäuser/imago

BERLIN taz | Als größte Gesundheitsgefahr gilt derzeit das Coronavirus und seine pandemische Verbreitung. Noch tödlicher sind jedoch die vielfältigen Formen der Krebserkrankung, die ein bösartiges Wachstum von Zellen und Organen bewirken. Während Forschung und Gesundheitssystem bei Corona im Notfallmodus agieren, werden die wissenschaftlichen Grundlagen für die Krebsbekämpfung in Deutschland nach einem langfristigen Plan erarbeitet: der „Nationalen Dekade gegen Krebs“, die 2019 gestartet wurde und jetzt eine Zwischenbilanz zog.

Zwei Zahlen verdeutlichen die unterschiedliche Dimension. 2020, im ersten Jahr der Pandemie, starben in Deutschland rund 30.000 Menschen an Covid-19. Demgegenüber ging im gleichen Jahr das Leben von 231.000 Patienten durch ihre Krebserkrankung zu Ende, genauso viele wie im Vorjahr.

In der medizinischen Forschung sind die wuchernden Tumore – ihre Entstehung, Eindämmung und Bekämpfung – ein Dauerthema. 1964 wurde allein zu diesem Zweck das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg gegründet – eine Großforschungseinrichtung, die mit ihren heute 3.000 Beschäftigten zu 90 Prozent vom Bundesforschungs­ministerium finanziert wird (Jahresbudget 320 Millionen Euro).

Jedes Jahr erkranken in Deutschland etwa 500.000 Menschen neu an Krebs. Wegen der zunehmenden Alterung der Bevölkerung rechnen Experten mit einem Anstieg dieser Zahl bis zum Jahr 2030 auf 600.000. Dem will die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) initiierte „Nationale Dekade gegen Krebs“ aktiv entgegenwirken, indem sie erstmals die zentralen Akteure der deutschen Krebsforschung in einem Bündnis vereint.

Dazu zählen neben dem BMBF, dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG), dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und der Deutschen Krebshilfe auch zwei Organisationen der Patientenvertretung. Gemeinsam mit weiteren Akteuren bilden sie den Strategiekreis, der insgesamt 17 Partner­organisationen umfasst.

Die Anfänge des Krebsforschungszentrums

Ein zentraler Akteur in diesem Ansatz ist das „Nationale Centrum für Tumorerkrankungen“ (NCT), das 2003 aus dem DKFZ zusammen mit der Uniklinik Heidelberg gegründet wurde, um Forschung mit Therapie zu verbinden. Ein zweiter NCT-Standort wurde in Dresden errichtet. „Um Diagnose und Behandlung von Krebserkrankungen zu verbessern, brauchen wir das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen“, erklärt Bundesforschungs­ministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP).

Ärzte und Wissenschaftler bündeln unter einem Dach ihre Expertise in Patientenversorgung, Krebsforschung und Krebsprävention. Weil das bisherige Konzept überzeugt hat, soll im Rahmen der Nationalen Dekade die Zahl der NCT-Standorte auf sechs erhöht werden.

Jedes Jahr erkranken in Deutschland etwa 500.000 Menschen neu an Krebs

Die vier neuen Standorte wurden im vergangenen Jahr in einem Gutachterprozess vom BMBF ausgewählt. Es handelt sich um das „NCT SüdWest“, getragen vom Comprehensive Cancer Center Tübingen – Stuttgart (CCC-TS) an der Uniklinik Tübingen und dem Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart sowie dem Comprehensive Cancer Center Ulm (CCC Ulm), sowie um das „NCT Köln-Essen“, das vom Cancer Research Center Cologne Essen (CCCE) mit dem Centrum für Integrierte Onkologie (CIO) Köln und dem Westdeutschen Tumorzentrum (WTZ) Essen getragen wird.

Weitere Neulinge sind das „NCT WERA“, getragen von den Universitäten und Universitätskliniken Würzburg, Erlangen, Regensburg und Augsburg sowie dem Comprehensive Cancer Center Mainfranken (CCC MF), und das „NCT Berlin“, hinter dem die Charité – Universitätsmedizin Berlin mit dem Charité Comprehensive Cancer Center (CCCC), dem Berliner Institut für Gesundheit (BIH) und dem Max-Delbrück-Centrum (MDC) für Molekulare Medizin mit dem Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) steht. Die neuen Standorte können im Endausbau bis zu 13 Millionen Euro vom BMBF erhalten. Zur Vereinbarung mit den Bundesländern gehört, dass das jeweilige Sitzland zusätzlich ein Gebäude stellt und sich ebenfalls an der jährlichen Finanzierung beteiligt.

Eine weitere Neuerung innerhalb der Nationalen Krebsdekade ist die Beteiligung der betroffenen Patienten. „Wir schlagen damit ein neues Kapitel in der Krebsforschung auf“, findet Stark-Watzinger. Was bei der Entwicklung von technischen Produkten längst üblich ist, nämlich die Einbeziehung der späteren Nutzer in die Prozessphase der Entwicklung, auch als „open innovation“ bezeichnet, soll nun ebenfalls in die Gesundheitswirtschaft Einzug halten.

Organisatorische Grundlage dafür ist die „Allianz für Patientenversorgung“, der sich bereits 41 Einrichtungen und Akteursgruppen angeschlossen haben, darunter auch Patientenvertretungen. Weil Patien­ten und ihre Angehörigen tagtäglich mit der Krankheit leben, bringen sie unterschiedlichste, für die Forschung oft ungewöhnliche oder neue Perspektiven, Fragen und Lösungsansätze mit ein. „Mit ihren Erfahrungen, ihrem Wissen und ihrem ganz individuellen Zugang können sie wertvolle Beiträge für bessere Heilungs- und Präventionsmöglichkeiten leisten“, beschreibt die Forschungsministerin den Vorteil dieses Ansatzes.

„Krebs zu bekommen bedeutet eine für den Normalbürger oftmals unvorstellbare Transformation der Bedürfnisse, Probleme und Prioritäten“, erklärt der Gründer und Geschäftsführer der Patientenorganisation „Patvocates“, Jan Geißler, gegenüber der taz. „Wir sehen das oft an Bürgern mit medizinischer Fachausbildung, deren Bild der Medizin und der erforderlichen Forschungsmethodik sich in dem Moment fundamental ändert, wenn sie eine Krebsdiagnose sehen und sie plötzlich zwischen dem Schlimmen und dem Furchtbaren entscheiden müssen.“ Aus dieser Perspektive werde das, was im Krankenbericht als „milder Verlauf“ bezeichnet wird, ganz anderes empfunden – „wenn man nämlich nicht mehr um den Block seines Viertels spazieren gehen kann“.

Oder, so ein anderes Beispiel Geißlers, die medizinische Diagnose „nur Grad 1/2 Diarrhö“ werde in der Erfahrungswelt des Patienten „zu einem Leben, in dem man sich nicht weiter als 30 Minuten von einer Toi­lette entfernen kann“. Und was Kliniker als „manageable Side Effects“ – beherrschbare Nebenwirkungen – einschätzen würden, bedeute für die Betroffenen eine Qual, die sie bis hin „zum selbstgewählten Abbruch der lebensrettenden Therapie mit fatalem Ausgang drängen“ könnte.

Geißler ist mit seiner Organisation auch stark auf europäischer Ebene aktiv, etwa in der Europäischen Patientenakademie (Eupati), oder auch in Forschungsarbeiten der Universitäten in Leeds und Manchester. „Großbritannien ist uns, was das Thema Patient and Public Involvement angeht, schon eine Zeit voraus, da dort schon vor rund 15 Jahren mit einem methodischen Ansatz der Patientenbeteiligung begonnen wurde“, berichtet Geißler. Deutschland habe erst durch die Nationale Dekade seit 2019 und die Formulierung von „Prinzipien der erfolgreichen Patientenbeteiligung“, die während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft begonnen wurde, aufgeholt und seitdem „stark gewonnen“.

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