Nina Gregori über Hilfe für Geflüchtete: „Die bisherige Reaktion war gut“

Bei der Aufnahme der Ukrai­ne­r:in­nen sind sich alle EU-Staaten einig, sagt die Direktorin der EU-Asylagentur. Eine Umverteilung sei nicht geplant.

Eine Mutter umarmt ihr Kind , beide sind nass vom Regen

In Sicherheit: Eine Ukrainerin mit ihrem Kind erreicht am 1. April die polnische Grenze bei Medyka Foto: Hannah McKay/reuters

taz: Frau Gregori, rund ein Zehntel aller Ukrai­ne­r:in­nen sind in die EU geflüchtet – und es könnten noch deutlich mehr werden. Wie muss die EU darauf reagieren?

Nina Gregori: Die bisherige Reaktion auf die vollkommen neue Situation der Krise in der Ukraine war erst einmal schnell und gut. Die Massenzustromrichtlinie wurde sehr schnell aktiviert, erfreulicherweise mit einem einstimmigen Beschluss. In Migrationsfragen sind die EU-Staaten ja oft uneins, es gibt da sehr verschiedene Herangehensweisen. Hier war es anders.

Bislang konzentrieren sich die Ankünfte auf die direkten Nachbarstaaten. Auf die Dauer wird das nicht so bleiben können. Was ist zu tun?

Man muss hier zwei Fälle unterscheiden. Der erste ist die Republik Moldau, ein Nachbarstaat, der nicht in der EU ist. Dorthin sind bisher etwa 400.000 Menschen geflohen, im Vergleich zur Bevölkerung ist das der höchste Wert unter den Nachbarstaaten. Elf EU-Staaten haben Moldau insgesamt rund 15.000 Aufnahmeplätze für Ukrai­ne­flücht­lin­ge angeboten. Das ist bisher das einzige formale Verteilungsverfahren.

Nina Gregori ist seit 2016 Direktorin der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) mit Sitz auf Malta (vor 2022 Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen, EASO). Zuvor arbeitete Gregori mehr als 20 Jahre im slowenischen Innenminis­terium.

Das Gros der Angekommenen ist in den EU-Nachbar­staaten. Aus Polen kamen in letzter Zeit widersprüchliche Signale, was eine Umverteilung angeht. Wie ist da die Situation?

Es gibt bislang von keinem EU-Staat eine formale Anfrage für Umverteilung, weder aus Polen noch aus der Slowakei, Tschechien, Ungarn oder Rumänien. Natürlich bereiten wir uns aber darauf vor, dass eine formelle Verteilung innerhalb der EU nötig werden könnte. Die Massenzustromrichtlinie ermöglicht eine solche Maßnahme rechtlich. Voraussetzung ist, dass ein Mitgliedstaat das vorschlägt. Die Entscheidung liegt beim Rat.

Die Ankommenden ziehen bisher also nur eigenständig weiter. Wohin?

Ukrai­ne­r:in­nen haben das Recht, sich 90 Tage frei zu bewegen. Die eigentliche Regis­trierung findet im Zielland statt. Dort wird eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt. An den Zahlen dieser Registrierungen kann man sehen, wohin die Menschen wirklich wollen. Viele sind etwa nach Italien, Spanien und auch Griechenland gezogen – an Orte mit einer ukrainischen Dias­po­ra. Es ist eine De-facto-Verteilung, aber sie wird von den Menschen selbst betrieben.

Wie wird es sein, wenn bald mehr Menschen kommen, die keine persönlichen Kontakte in andere EU-Staaten haben?

Wir rechnen damit, dass eine solche zweite Welle bald kommen wird. Wir brauchen dann wohl mehr Koordination für die Verteilung durch die EU-Kommission. Bis jetzt gibt es dafür die sogenannte Solidaritätsplattform.

Wie funktioniert die?

Damit werden die Flüchtlinge aus Moldau in andere EU-Staaten verteilt. Dazu gibt es wöchentliche Treffen, die die Kommission koordiniert. Daran sind die Mitgliedstaaten beteiligt, aber auch wir. Schon heute gibt es zwischen den Mitgliedstaaten bilaterale Vereinbarungen über den Weitertransport. Wir wollen aber auch bei diesen freiwilligen Kooperationen zu einem ­europäischeren Ansatz kommen.

Als EU-Asylbehörde sind Sie für Flüchtlinge zuständig. Die Ukrai­ne­r:in­nen sind aber keine Asylbewerber. Was heißt das für Ihre Arbeit?

Das stimmt. Trotzdem haben wir ein Mandat für die Ukrainer:innen. Die Kommission hat es uns mit dem Beschluss zur Massenzustromrichtlinie erteilt. Wir sollen unter anderem bei der Registrierung der Ankommenden helfen. Wir waren in acht Ländern vertreten, bevor die Ukraine­krise begann. Seit dieser Woche sind wir in Rumänien, Ende des Monats werden wir in elf Staaten sein. Heute etwa haben wir eine Anfrage der Tschechischen Republik erhalten.

Was genau tun Sie dort?

In Polen etwa hatten viele, die weiterziehen wollten, keine ausreichenden Informationen, wie und wohin das möglich ist. Sie fragen sich: Wie werden wir aufgenommen? Können die Kinder zur Schule gehen? Dabei helfen wir den Mitgliedstaaten. Wenn es zu einer Verteilung kommt, können wir sicherlich auf Erfahrungen und Regelungen zurückgreifen, die wir für die inner­europäische Umverteilung von Asylsuchenden aus Griechenland, Italien und Malta entwickelt haben.

Manche fürchten, dass die hohe Zahl ankommender Ukrai­ne­r:in­nen zulasten der Aufnahme anderer Schutz Suchender geht. Gibt es dafür Anzeichen?

Nein, nur ein verschwindend geringer Teil der Ukrai­ne­r:in­nen in der EU stellt einen Asylantrag. Die humanitäre Aufenthaltserlaubnis ist ja schließlich viel schneller zu bekommen. Nur in fünf EU-Staaten ist die gleiche Behörde sowohl für die Regis­trierung der Ukrainer als auch für die Anträge regulärer Asylbewerber zuständig. Auch die jüngsten Zahlen zeigen, dass die EU weiterhin ein Raum des Schutzes auch für Verfolgte aus anderen Regionen ist.

Tatsächlich?

2021 lag die Anerkennungsrate etwa für syrische An­trag­stel­le­r:in­nen bei 72 Prozent, für Afghanen nach der Talibanmachtübernahme bei 92 Prozent. Und sie liegen auch seit Beginn des Ukrainekriegs sehr hoch. Wir sehen hier keine Prio­ri­sie­rung, auch nicht, dass der Schutz der einen auf Kosten des Schutzes der anderen geht. Die Behauptung, Europa verhalte sich rassistisch, weil es Ukrai­ne­r:in­nen Schutz gewähre und anderen nicht, trifft nicht zu.

Ein Unterschied ist aber: Die Ukrai­ne­r:in­nen können einfach einreisen, die anderen sterben auf dem Weg im Meer.

Da ist eine geografische Rea­li­tät. Der Krieg in der Ukrai­ne spielt sich in einem direkten Nachbarland ab, da ist kein Meer dazwischen. Deswegen ist der Zugang leichter. Die EU ist ein Raum des Schutzes mit einem weltweit einzigartigen, multinationalen Asylsystem, ein Schutzschirm aus 27 Staaten. Es ist nicht alles perfekt, aber wir haben das global am besten funktionierende System. Fliehende können hierherkommen.

Die Tatsache, dass Schutzsuchende aus anderen Regionen auf dem Weg sterben oder zurückgewiesen werden, ist keine Frage der Geografie, sondern der Politik. Es gibt massenhaft Pushbacks, es gibt die Kooperation mit der libyschen Küstenwache.

Es ist für die EU sehr wichtig, sich mit den Ländern auf den Fluchtrouten zu befassen. Wir als Agentur haben für diese Länder nur das Mandat für Kapazitätsaufbau und Kooperation mit diesen Regionen. Das ist die ­externe Dimension unserer Arbeit, ein sehr wichtiger Teil des Migrationsmanagements. Er hilft, die Herausforderungen ­anzugehen, die Sie ansprechen. Wir wollen, dass die EU ein Raum des Schutzes bleibt. Daran müssen wir kontinuierlich arbeiten.

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