Türkische Diplomatie im Ukrainekrieg: Vom Paria zum Staatsvermittler

Bis vor Kurzem war der türkische Präsident Erdoğan noch international isoliert. Nun könnte er eine Schlüsselrolle bei einem Friedensschluss spielen.

Tayyip Erdogan spricht zu der russischen und ukrainiscchen Delegation

Er ist wieder da: Recep Tayyip Erdoğan, diesmal als Diplomat der Herzen Foto: Murat Cetinmuhurdar/Presidential Press Office/reuters

Wenn man die Bilder des Nato-Sondergipfels vor einer Woche in Brüssel und die Bilder vom den russisch-­ukrainischen Friedenverhandlungen in Istanbul betrachtet, muss man den Eindruck bekommen, Recep Tayyip Erdoğan, noch vor kurzer Zeit ein Paria auf dem internationalen Parkett, feiere ein glorreiches Comeback. Jeder will mit ihm reden, viele klopfen ihm auf die Schulter und hoffen, er könnte der entscheidende Vermittler bei einem Friedensschluss zwischen Russland und der Ukrai­ne werden. Das zeichnete sich schon vor dem Nato-Gipfel ab, als sich innerhalb weniger Tage Bundeskanzler Scholz, der israelische Präsident Herzog und der griechische Ministerpräsident Mitsotakis in Ankara sich die Klinke in die Hand gaben.

Außenpolitisch, so viel scheint sicher, ist der türkische Autokrat wieder zurück. Kein anderer Nato-Politiker hat vom russischen Überfall auf die Ukraine so profitiert wie Erdoğan, weil er es geschafft hat, sich beiden Seiten als glaubwürdiger Vermittler darzustellen.

Von Beginn des Krieges an hat Erdoğan betont, ein gutes Verhältnis zu beiden Seiten aufrechterhalten zu wollen. Folglich verurteilte er zwar den Angriff auf die Ukraine gemeinsam mit den anderen Nato-Staaten, schloss eine Beteiligung an den Sanktionen gegen Russland aber aus. Die türkische Regierung setzt alle anderen Kooperationen mit Russland fort: angefangen mit dem Weiterbau eines AKW durch einen russischen Staatskonzern bis zu den Flügen von Turkish Airlines in russische Städte und dem Handel mit Russland in der Landwirtschaft.

Dennoch kritisiert die ukrainische Regierung Erdoğan nicht – was damit zusammenhängt, dass die Türkei schon seit Jahren Waffen an die Ukraine verkauft. Die türkischen Kampfdrohnen Bayraktar T-B2 besitzen in den sozialen Medien der Ukraine mittlerweile Kultstatus. Die Türkei ist wie Russland und die Ukraine ein Anrainerstaat des Schwarzen Meeres, weshalb Erdoğans Vermittlungsbemühungen schon aus ureigenem Interesse sowohl für Russland wie für die Ukraine glaubwürdig sind.

Nach Jahren der Repression und Aggression

Dennoch ist die Vorstellung von Erdoğan als Friedenvermittler atemberaubend, wenn man sich vergegenwärtigt, aus welchen Abgründen der türkische Präsident auftaucht. Seit dem niedergeschlagenen Putschversuch im Sommer 2016 war Erdoğans Politik gekennzeichnet durch Repression nach innen und Aggression nach außen.

Den Putschversuch nutzte er, um Abertausende Kritiker ins Gefängnis zu bringen oder außer Landes zu treiben – und um anschließend sein autokratisches Präsidialsystem zu implementieren. Nach außen setzte er militärische Gewalt in einem in der jüngeren türkischen Geschichte nie gekannten Ausmaß ein.

Der Putschversuch, von dem Erdoğan angeblich völlig überrascht wurde, war noch nicht ganz vorbei, da ließ er die türkische Armee bereits das erste Mal nach Nordsyrien einmarschieren. Dem folgten zwei weitere Gebietseroberungen vom Nordwesten bis ganz nach Nordosten und eine Teilbesetzung der letzten Rebellenprovinz Idlib. Er nutzte syrische Söldner, um sich im Bürgerkrieg in Libyen einzumischen, und verhalf den Truppen Aserbaidschans zu ihrem Sieg gegen Armenien im Kampf um Karabach. Selbst gegenüber dem EU-Mitglied und Nato-Partner Griechenland scheute er nicht davor, Ansprüche auf Schürfrechte für Öl und Gas im östlichen Mittelmeer mit militärischen Drohungen zu unterstreichen. Dennoch gilt er jetzt als großer Friedensvermittler. Das muss ihm erst einmal ein anderer Politiker nachmachen.

Der Krieg relativiert die Lage im eigenen Land

Sein außenpolitisches Comeback bleibt innenpolitisch nicht ohne Wirkung. Nach jüngsten Umfragen finden rund 70 Prozent der türkischen Bevölkerung Erdoğans Kurs gegenüber dem russischen Angriff auf die Ukraine richtig. Das heißt, den Angriff verurteilen ja, der Ukraine Waffen liefern auch, aber keine Sanktionen gegen Russland verhängen, um sich alle Optionen offenzuhalten. Schon aus historischer Erfahrung will die ganz überwiegende Mehrheit der TürkInnen nicht in einen Krieg mit Russland hineingezogen werden, und schon deshalb unterstützen sie jetzt den Kurs des Präsidenten.

Das ist bitter für die Opposition, die sich noch vor wenigen Wochen auf der Siegerstraße gesehen hatte. Erdoğans desaströse Wirtschaftspolitik, die Korruption und Vetternwirtschaft der regierenden AKP, hatte seine Umfragewerte mehr und mehr in den Keller geschickt. Seit den verlorenen Wahlen in der Metropole Istanbul im Sommer 2019 war Erdoğan offensichtlich angeschlagen.

Doch angesichts der Schockwellen, die der Krieg in Europa wirtschaftlich weltweit auslöst, relativieren sich die hohe Inflation und die galoppierenden Preise in der Türkei wieder, weil auch woanders die Preise drastisch steigen und die Inflation in europäischen Ländern neue Höchststände erklimmt. Geschickt lässt er die Mehrwertsteuer für diverse Lebensmittel senken, sodass in den kommenden Wochen in der Türkei im Vergleich zu anderen Ländern die Preise sogar etwas sinken sollen. Da bleibt der Opposition nicht mehr viel Angriffsfläche. Ihr Treffen von sechs Opposi­tions­parteien in dieser Woche, bei dem sie eine gemeinsame Plattform für die Präsidenten- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr ankündigten, wäre in normalen Zeiten das Topthema im Land gewesen – jetzt blieb es eine Randnotiz.

Der Eindruck: Der Präsident hat's im Griff

Schon einmal hat ein außerordentliches Ereignis Erdoğan vor dem völligen Absturz gerettet: die Pandemie. Nach dem Sieg der Opposition bei den Kommunalwahlen 2019 und einer damit einhergehenden sich dramatisch verschlechternden wirtschaftlichen Situation im Land kam Anfang 2020 die Pandemie und stellte die politischen Verhältnisse völlig auf den Kopf. Statt dass die Opposition den Schwung aus den Kommunalwahlen für weitere Attacken auf Erdoğan nutzen konnte, kam mit der Pandemie die Stunde der Exekutive.

In dem sowieso sehr zentralistisch aufgestellten Land Türkei noch stärker als in Deutschland, wo die Bundesländer mitmischen konnten. Die Impfkampagne in der Türkei funktionierte außerdem hervorragend. Statt ewig langer Warteschlagen funktionierte die Vergabe der Impf­termine übers Internet.

Bei aller massiver Kritik an Erdoğan, seinem repressiven Regime und der weitgehenden Ermüdung über seine One-Man- Show in großen Teilen der Bevölkerung schafft er es dennoch, den Eindruck zu vermitteln: Wenn es drauf ankommt, hat der Präsident die Sache im Griff. Noch bleibt für die Opposition ein Jahr Zeit, um sich für die Präsidentschaftswahl im Juni kommenden Jahres wieder in eine bessere Position zu bringen. Wenn sie jetzt keine großen Fehler machen und sich vor allem geräuschlos auf einen gemeinsamen, populären und aussichtsreichen Kandidaten für die Präsidentenwahl einigen, haben sie nach wie vor gute Chancen, Erdoğan aus dem Amt zu kippen.

Doch wer weiß, was bis zur Wahl noch alles passiert. Erdoğan wird jedenfalls keine Gelegenheit auslassen, um auch weiterhin seine Macht zu sichern.

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