„Wahrscheinlich braucht es Abschreckung“

Emotionen spielen eine große Rolle: Die Friedensforscherin Regina Heller über Putins Narrative und was der Krieg in der Ukraine für die Friedensforschung bedeutet

Foto: IFSH

Regina Heller 50, ist wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Sie forscht unter anderem zu

russischer Innen- und Außenpolitik und den EU-Russland-Beziehungen.

Interview Marthe Ruddat

taz: Frau Heller, Sie forschen seit Jahren zu Russland, unter anderem zu russischer Innen- und Außenpolitik und ungelösten Konflikten im postsowjetischen Raum. Waren Sie überrascht von der Invasion Russlands in die Ukraine?

Regina Heller: Ja und nein. Ich habe schon gemerkt, dass mit der Bedingungslosigkeit der Forderungen, die Russland im Vorfeld an die Nato gestellt hat, etwas Ungewöhnliches im Gange ist. Es gab verschiedene mögliche Szenarien, beispielsweise, dass Russland nur eine Drohkulisse aufrechterhält, um Zugeständnisse zu erwirken. Die meisten Wissenschaftler und Russlandexperten gingen aber davon aus, dass es eine militärische Auseinandersetzung in der Ostukraine geben würde. Das Szenario, dass Putin die ganze Ukraine einnehmen will, habe ich eher für unwahrscheinlich gehalten, weil nicht nachvollziehbar ist, wie Russland mit diesem Szenario die angestrebten Ziele erreichen will.

Und warum sind Sie doch nicht vollkommen überrascht?

Weil mir aufgrund meiner Forschung klar war, dass die Kalkulation Putins nicht auf rein sachlichen Argumenten beruht, sondern auch von anderen Faktoren beeinflusst ist. Es geht auch um die Frage, wie Putin die Geschichte Russlands und das Verhältnis zum Westen in den vergangenen 25 Jahren interpretiert. Auf russischer Seite herrscht offensichtlich das Gefühl, dass die russische Selbstdefinition und Identität immer weniger anerkannt worden ist. Russland ist faktisch eine absteigende Macht, man agiert aus einer Position des Verlustes. Aus dieser Position heraus setzt Putin fehlerhafte Prioritäten und achtet nicht so sehr darauf, was realistisch ist oder passieren kann.

Sie sprechen damit die sozio-emotionalen Faktoren an, mit denen Sie sich auch in Ihrer Forschung beschäftigen. Wieso haben Sie hier einen Fokus gesetzt?

Wenn man so will, hat mich der Untersuchungsgegenstand selbst darauf gebracht. Mit dem Krieg im Kaukasus 2008 habe ich eine gewisse Verschiebung erkannt. Putin wurde immer mehr der „angry man“, der permanent von fehlendem Respekt sprach. Die Rhetorik wurde immer aggressiver und man konnte auch eine zunehmende Aggressivität der Außenpolitik und Autokratisierung nach innen wahrnehmen. Ich habe mich gefragt, wie das einzuordnen ist. Denn wenn auf der einen Seite Narrative vom fehlenden Respekt eine Rolle spielen und auf der anderen Seite politische Praktiken sichtbar werden, die für Russland tendenziell nachteilig sind, dann ist das nicht rein rational erklärbar, sondern dann müssen andere Faktoren eine Rolle spielen.

Wie muss ich mir Ihre wissenschaftliche Arbeit genau vorstellen?

Das kommt auf die Fragestellung an. Bei dem Projekt über Emotionen ging es um die Frage, welches Narrativ die russische Regierung in die Öffentlichkeit transportiert und wie sich die Rhetorik im Abgleich mit der politischen Praxis verändert. Dafür haben wir qualitative Forschung betrieben und sehr viel Material ausgewertet, unter anderem Regierungstexte. Die Auswertung erfolgte, basierend auf wissenschaftlichen Theorien, nach spezifischen Analysemodellen, beispielsweise aus der Psychologie.

Und welche Muster haben Sie da erkannt?

Wir konnten feststellen, dass aus einer zunächst episodischen Wut über gefühlte westliche Statusmissachtung über die Zeit dauerhafte Ressentiments gegenüber dem Westen entstanden sind, die immer häufiger und ereignisunabhängig die Wahrnehmung und den offiziellen Diskurs geprägt haben. Diese Ressentiments sind heute eine Ressource für die Stabilisierung des Regimes, das sich vor allem über die Großmachtidentität Russlands legitimiert.

Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, welche Aufgabe oder Position hat die Friedensforschung jetzt?

In der Friedensforschung geht es immer darum, Lösungen für Konflikte zu finden, Gewalt und den Tod von Menschen zu verhindern. Die Waffenlieferungen an die Ukraine stellen aus meiner Sicht ein Dilemma für uns Friedensforscher dar. Natürlich hat die Ukraine das Recht, sich zu verteidigen, das ist auch in der UN-Charta festgeschrieben. Auf der anderen Seite kann man argumentieren, dass dadurch das Leid verlängert wird. Ich glaube, auf diese Frage gibt es keine zufriedenstellende Antwort. Im Moment ist sicherlich die wichtige Frage, wie eine Verhandlungslösung aussehen kann. Das ist natürlich schwierig, weil man nicht den Eindruck hat, dass für die russische Seite eine Verhandlungslösung infrage kommt.

Es gibt ja Verhandlungen.

Ja, aber die Frage ist, ob sie wirklich ernsthaft geführt werden oder sie für Russland nur ein Element sind, um Zeit zu gewinnen und sich strategisch anders aufzustellen. Das ist schwierig zu sagen. Ich denke, die Friedensforschung wird sich mit der Frage beschäftigen müssen, welche Friedensordnung es in Europa nach diesem militärischen Konflikt geben kann. Es braucht ja unbestritten auch zukünftig irgendeinen Modus Vivendi mit Russland. Die Frage ist, wie man sich miteinander arrangiert.

„Waffenlieferungen stellen ein Dilemma für uns Friedensforscher dar“

Was können Sie sich da vorstellen?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wahrscheinlich braucht es Abschreckung. Möglich ist eine reine Sicherheitsordnung, in der man versucht, Regeln zu finden, mit denen sich jede Seite sicher fühlt. Eine Friedensordnung, in der man kooperiert und gemeinsam die Zukunft entwickelt, wäre noch ein Schritt weiter. Aber ich glaube, davon sind wir derzeit ganz weit entfernt.

Sorgt der Ukrainekrieg also auch dafür, dass bisherige Annahmen der Friedensforschung nicht mehr gültig sind?

Ich denke, dass wir generell vor neuen Herausforderungen stehen und auch die Friedensforschung und Friedenstheorie bestimmte Dinge neu denken muss. Viele Theorien sind in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, in denen die Strukturen relativ fest waren und sich viel auf den Ost-West-Konflikt konzentriert wurde. Wir sehen ja aber seit vielen Jahren, dass immer wieder andere Konfliktherde auftauchen. Wir haben das am Institut die Bruchstellen der Globalisierung genannt.

Welche Bruchstellen meint das?

Es geht nicht mehr nur um Konflikte zwischen zwei Staaten. Es gibt nicht mehr nur die zwei Pole Ost und West, sondern mehrere Machtpole auf der Welt, beispielsweise auch aufstrebende Länder im globalen Süden. Alles ist viel mehr verflochten. Es brechen heute auch Konflikte aus zwischen Gesellschaften, beispielsweise durch eine zunehmende Schere zwischen Arm und Reich in etablierten Demokratien. Wir müssen uns fragen, was unter den Bedingungen des Wandels und der Verflechtung zukünftig Frieden konstituieren kann.