Zwangsevakuierung aus der Ukraine: Zwischen Flucht und Verschleppung

Anfangs wollte Moskau Fluchtkorridore aus der Ukraine nur in Richtung Russland und Belarus öffnen. Jetzt werden Menschen offenbar anders weggebracht.

Ein Panzer rollt nebem einem Auto vorbei. Darin sitzt eine Frau

Mariupol am 24. März: Russische Panzer neben Menschen, die versuchen, die Stadt zu verlassen Foto: Alexander Ermochenko/reuters

BERLIN taz | Zynisch, aber wahr: In der ersten Märzwoche und damit rund elf Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte Moskau als „Gegenleistung“ für seine Garantie humanitärer Korridore die Evakuierung von Zi­vi­lis­t*in­nen nach Russland und Belarus zur Bedingung gemacht. Jetzt versucht der Kreml, dieses Ziel offensichtlich anders zu erreichen.

Nach Angaben der ukrainischen Ombudsfrau für Menschenrechte, Ljudmila Denissowa, vom Freitag sollen bislang 402.000 Zivilist*innen, darunter 84.000 Kinder, gegen ihren Willen nach Russland verschleppt worden sein. Russische Quellen nennen ähnliche Zahlen, betonen aber, dass die Menschen freiwillig nach Russland hätten fahren wollen.

Laut eines russischen Generals, den der Sender Radio Freies Europa zitiert, stammten 400.000 Zi­vi­lis­t*in­nen aus den Regionen Luhansk und Donetzk. In Russland würden ihnen Unterkünfte zur Verfügung gestellt und ein Taschengeld ausgezahlt.

Dass die Menschen sich angeblich aus freien Stücken nach Russland begeben, stellt sich aus Sicht der Stadtverwaltung in Mariupol komplett anders dar. In der Hafenstadt am Asowschen Meer, die seit Wochen von russischen Truppen eingekesselt ist, sind bereits über 3.000 Tote zu beklagen.

Pässe abgenommen

Informationen der örtlichen Behörden zufolge, auf die sich das russischsprachige Nachrichtenportal Nasto­jaschee vremja bezieht, seien bereits 6.000 Menschen aus den östlichen Stadtteilen Mariupols in Busse gezwungen und nach Russland verbracht worden. Zuvor seien ihnen ihre ukrainischen Pässe sowie sonstigen Dokumente abgenommen worden. Von letzterer Zwangsmaßnahme seien insgesamt 15.000 Zi­vi­lis­t*in­nen betroffen.

In Russland selbst würden die Menschen zunächst in „Fil­tra­tions­la­ger“ gebracht und von dort aus auf andere russische Regionen verteilt. Traurige Berühmtheit erlangten die sogenannten Filtrationslager zuletzt während der beiden Tsche­tsche­nien­krie­ge (1994–1996 und 1999–2009). Angeblich sollten sie dazu dienen, „Separatisten und Terroristen“ aufzuspüren. In den Lagern waren schwere Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung.

Laut Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums sei ein entsprechendes Lager in Dokutschajewsk eingerichtet worden. Die Stadt befindet sich in dem Teil des Donetzker Gebiets, das prorussische Kämpfer kontrollieren. In dem Lager befänden sich auch Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB.

Unterdessen hat die Kreml­partei „Einiges Russland“ in ­Mariupol ein Büro eröffnet. Das berichtet das russischsprachige Internetportal Insider.ru mit Sitz in der lettischen Hauptstadt Riga. Dort würden, neben der Parteizeitung und SIM-Karten, auch Hilfsgüter verteilt.

Vor wenigen Tagen hatte die Mariupoler Stadtverwaltung die Bevölkerung vor einer Desinformationskamapagne der russischen Truppen gewarnt. Diese hätten demnach über Lautsprecher bekannt gegeben, dass die Stadt Saporischschja keine Geflüchteten mehr aufnehmen könne und Odessa erobert worden sei. Daher müssten alle nach Russland fahren.

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