Tschechische Solidarität im Ukrainekrieg: Gelebte Verbundenheit

In Tschechien leben viele UkrainerInnen. Einige wollen nun in den Krieg ziehen – andere ihre Verwandten davor schützen.

Eine ukrainische Flagge wird von einer Gruppe Demonstranten in einer nächtlichen Menschenmenge getragen.

Demonstrierende in Prag zeigen sich solidarisch mit der Ukraine Foto: CTK

CHELM taz | „Die Ukraine könnte mal wieder ihren Rasen mähen“, brummt Vasyl. Sein Blick ruht auf einem halb-überfluteten Feld irgendwo zwischen Chelm und Wolodymyr, zwischen Polen und der Ukraine. „Zwischen Krieg und Frieden“, meint Vasyl Artymovych und zeigt auf einen schwarz-weißen Grenzposten: „Wo ich stehe, ist Frieden und hinter dem Poller herrscht Krieg.“

Sein Heimatort liege „nicht weit dahinten“, sagt Artymovych und winkt mit der Hand auf den weiten, dunklen Wald, der sich hinter dem überfluteten Feld auf der ukrainischen Seite erstreckt. Über ihm brechen gerade erste zaghafte Sonnenstahlen durch den frühen ersten Märzmorgen. Die ganze Nacht ist Artymovych durchgefahren, vom tschechischen Nachod in Ostböhmen über Warschau und Lodz, bis an die polnisch-ukrainische Grenze. Kurz nach Morgengrauen steht er kurz vor Volodymyr und ärgert sich über zu hohes Gras. Aber eigentlich ist er hier, um seine 18-jährige Nichte abzuholen, die noch bei der Oma in der Ukraine lebt und mit dem Bus an der Grenze ankommen soll.

Die Details organisiert er per Handy und mit stoischer Ruhe. „Es kann eine Stunde dauern oder auch fünfzehn“, hatte er noch am Abend gedacht. Der Morgen darauf bringt Klarheit: „Die Polen winken alles durch“, sagt Artymovych und freut sich

Das Fahren sei er gewöhnt und lange Strecken sowieso, erzählt Artymovych. Es komme immerhin öfters vor, dass er nach Italien fahre oder nach Rotterdam, um Material abzuholen. Als gelernter Schreiner ist Artymovych vor 15 Jahren nach Tschechien gekommen. Im ostböhmischen Kreisstädtchen Nachod, mit Blick auf das Riesengebirge und der Grenze zu Polen, hat er sich in der Nische zwischen Handwerk und Kunst eine kleine Firma aufgebaut. Neben originalgetreuen Replikafenstern und -türen gilt Artymovychs Leidenschaft vor allem der Verbindung von Holz und Stahl. „Ich plane gerade eine neue Halle im Hof zu bauen, in der wir nur mit Stahl arbeiten werden“, erzählt Artymovych und für einen Moment durchbricht sogar ein Hauch von Erregung seine sonst ruhige tiefe Stimme.

Tschechien und die Ukraine sind eng verbunden

Jeder Dritte, der in Tschechien gemeldet ist und aus dem Ausland stammt, kommt aus der Ukraine: Es sind meist Ukrainer, die in Tschechien (das seit langem vor Arbeitermangel ächzt) die Straßen und Häuser bauen, die sich jeden Morgen als Tagelöhner verkaufen. Und es sind meist Ukrainerinnen, die die Häuser und Wohnungen dann putzen, einmal die Woche auf Hochglanz bringen. Genauso gibt es viele Studierende, UnternehmerInnen, KünstlerInnen aus der Ukraine, die sich in Tschechien eine neue Heimat gemacht haben. Oder Handwerker wie Artymovych.

Zu den rund 200.000 ukrainischen Staatsangehörigen in Tschechien kommen noch mehr als 50.000 tschechische Staatsangehörige ukrainischer Herkunft – aus der Zeiten der Ersten Tschechoslowakischen Republik, die sich bis in die Karpatoukraine erstreckte. Sie bilden die größte anerkannte nationale Minderheit in Tschechien.

Im tschechischen Alltag macht sich das bemerkbar: Bauarbeiter erläutern, warum sie jetzt in den Krieg ziehen, obwohl sie absolut keinen Bock darauf haben. Reinigungskräfte fehlen, weil sie ihre Kinder aus der Ukraine holen müssen. Studierende sind hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Angst. Kaum jemand in Tschechien fühlt sich vom Schicksal der Ukrainer nicht persönlich betroffen. Umso mehr, als das Schicksal der Ukrainer den Tschechen im Bösen vertraut ist: Minderheitenschutz als casus belli in der so genannten „Sudetenkrise“ 1938, die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, Appeasement, Hilflosigkeit.

Die Solidarität ist breit getragen

Die Welle der Solidarität, die der Ukraine aus der tschechischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft entgegenschlägt, ist überwältigend. Internationale Handelsketten, unter ihnen auch Kaufland, Penny und DM haben angekündigt, Angestellten, die in den Krieg ziehen, weiterhin die Hälfte ihres Gehalts zu zahlen und sie nach ihrer Rückkehr weiter zu beschäftigen. Alles Russische ist derweil schon in Ukrainisch umbenannt, vom Russischen Eis zu Russischen Eiern. Die Russische Straße in Prag wurde von Aktivisten in Russisches-Kriegsschiff-Fick-Dich-Straße umbenannt.

Züge, Busse und Straßenbahnen, die in ganz Tschechien blau-gelb beflaggt sind, transportieren Geflüchtete kostenlos. Tausende, die auf den Straßen und Plätzen der Republik demonstrieren, organisieren auch Hilfsaktionen und Unterkünfte, oft über Facebook und oft auch spontan. Allein in der ersten Kriegswoche sammelte die Hilfsorganisation Člověk v tisni (Mensch in Not) umgerechnet 40 Millionen Euro Spendengelder.

Die Ukraine sehen
Ein Mann steht an einem Stopp-Schild auf einer Straße und blickt in die Kamera

Vasyl Artymovych an der Grenze Foto: Alexandra Mostýn

Nicht weniger rasant reagierte die Politik: Um gängige Einreise- und Asylbeschränkungen für ukrainische Kriegsflüchtlinge außer Kraft zu setzen verlieh ihnen die Regierung per Notstandsgesetzgebung de facto den Status von EU-Bürgern. Das hässliche Wort Notstand trifft in diesem Fall bei den meisten Tschechen auf Verständnis: Die Ukrainer sind seit Jahren Teil ihrer Gesellschaft, wenn, wann nicht jetzt ist Zeit dies anzuerkennen?

Ob er vielleicht mal ganz kurz in die Ukraine dürfte, fragt Artymovych den polnischen Polizisten, der entspannt ein ukrainisches Auto nach dem anderen durchwinkt. „Lieber nicht, sonst dürfen Sie ja nicht mehr raus,“ meint der Polizist, da reicht an diesem Punkt schon ein Schritt.

Artymovych muss draußen bleiben, aber irgendjemand wird die Ukraine ja auch wieder aufbauen müssen. Sein Handy klingelt. Der Bus mit seiner Nichte ist inzwischen bis Warschau weitergefahren. „Wozu bin ich dann hier,“ fragt sich Artymovych, zuckt die Schultern und geht zu seinem Auto. Bevor er einsteigt, dreht er sich nochmal um und antwortet sich selbst: „Wenigstens habe ich nochmal die Ukraine gesehen.“

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