Konsequenzen aus dem Krieg: Kein Platz für Emotionen

Anstatt langjährige Grundsätze über den Haufen zu schmeißen und übereilt zu entscheiden, sollte man prüfen, was sinnvoll und was machbar ist.

Pumpenheber in einem Ölfeld

Ölfeld in der Russischen Republik Tatarstan Foto: Yegor Aleyev/TASS/imago

Das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit, heißt es. Vielleicht stirbt jedoch die Vernunft zuerst. Nicht nur, weil Krieg an sich unvernünftig ist. Auch weil aus Angst und Schock eine überbordende Emotionalität den öffentlichen Diskurs besetzt, die kein guter Ratgeber ist. Übertriebene Behauptungen treiben überhastete Entscheidungen vor sich her.

Etwa bei den Sanktionen: Russland hat neulich seine Staatsbilanzen für Februar veröffentlicht. Ein sehr profitabler Monat, der Überschuss hoch, weil der Krieg die Energiepreise in die Höhe schnellen lässt. Putins Krieg wird also durch den Krieg finanziert. Die Lösung wäre einfach. Energie ist zwar überlebenswichtig, doch würde ein deutscher Boykott keine katastrophalen Schäden bei uns verursachen – weitaus weniger als jene eines fortdauernden Krieges.

Die wirtschaftlichen Kosten werden laut Analysten höchstens einige Prozentpunkte des BIP betragen. Unangenehm, aber nicht katastrophal. Da es Alternativen zum russischen Öl gibt und Gas hierzulande vor allem zum Heizen benutzt wird, sollten wir als Frühjahrsputz unser Energie-Abo bei Putin kündigen.

Bescheidung wäre eine prima Alternative. Letzte Woche hat die Internationale Energieagentur einen Plan veröffentlicht, wie wir massiv Erdöl einsparen können: langsamer fahren, öfter den Zug nehmen, ein verkehrsfreier Sonntag. Wieso werden solche Maßnahmen nicht in die Wege geleitet? Könnte es sein, dass der Kapitalismus ausbleibendes Wirtschaftswachstum mehr fürchtet als den Krieg? Ist Verzicht für uns ein zu großes Kriegsopfer?

Eine Flugverbotszone ist illusorisch

Wenn wir schon beim Reinemachen sind: Die bisherigen Sanktionen gegen die Vermögen russischer Oligarchen sind harmlos. Da diese Kleptokraten, Kriminelle und Geldwäscher einen Angriffskrieg unterstützen, sind sie Terroristen, und als ich zuletzt nachsah, verfügte der „Westen“ über sehr effektive Instrumente, terroristische Vermögen zu beschlagnahmen.

Statt an dieser Schraube zu drehen, wird aufgerüstet, auch rhetorisch. Wer in Talkshows und Interviews eine Flugverbotszone fordert, sollte sich einen Tag freinehmen und ein wenig auf den Webseiten recherchieren, die sich – vor allem auf Englisch – militärischen Fragen widmen. Nicht nur wäre es logistisch fast unmöglich, es müssten zudem Stellungen in Russland beziehungsweise Belarus bombardiert werden.

Das würde unweigerlich den Krieg ausweiten und in die Hände der russischen Propaganda (Nato als Aggressor) spielen. Unsere Politik regiert derweil per Sonderfonds. 2005 betrugen unsere Militärausgaben 33,3 Mrd. und 2020 52,8 Mrd. Dollar. Das ist a) sehr viel Geld und b) ein ziemlich rasanter Anstieg. Trotzdem behaupten reihenweise pensionierte Generäle, die deutsche Armee sei nicht wehrfähig.

Sind diese ehemaligen Offiziere für diesen Missstand nicht wenigstens mitverantwortlich? Und sollte es stimmen, müssten nicht sofort Verfahren gegen die Zuständigen eingeleitet werden? Für 632,6 Milliarden Dollar in 15 Jahren dürfen wir schon ein wenig Landesverteidigung erwarten.

Fehler der Armeeführung

Sollten nicht, angesichts dieses Versagens von Politik und Armeeführung, zunächst in einem demokratischen Prozess die Fehler aufgearbeitet und die künftigen Prioritäten diskutiert werden? Ist Aufrüstung der richtige Weg? Wäre es für die Verteidigung gegen diesen Angriffskrieg nicht sinnvoller, mit einer derartigen Summe die Folgen eines Boykotts russischen Erdöls und Gases aufzufangen und die Flüchtlinge zu versorgen?

Zumal sich die Frage stellt, was unsere Landesgrenzen wirklich sichert? Die Qualität der germanischen Flugabwehr und die Quantität der teutonischen Munition oder MAD (mutual assured destruction)? Seit ich zurückdenken kann, wird uns die Logik der atomaren Abschreckung eingetrichtert. Stimmt sie etwa nicht mehr?

Von manchen wird eifrig ein schneller EU-Beitritt der Ukraine gefordert. Vorsichtige Stimmen werden der bürokratischen Apathie beschuldigt. Dabei sind die Gefahren eines überstürzten Aufnahmeverfahrens hinlänglich bekannt. In manchen Ländern Osteuropas haben die Fördersummen aus Brüssel die Macht der neuen Plutokraten gestärkt. Bis noch vor einigen Monaten berichteten europäische Medien über Korruption und Oligarchie in der Ukraine.

Solche strukturellen Defizite werden weder durch das schreckliche Leid der Menschen noch den Mut der Kämpfenden überwunden. Wir müssen die Menschen in der Ukrai­ne entschieden unterstützen, aber das bedeutet nicht, dass wir die Augen verschließen vor demokratischen Mängeln – auch dort. Zudem wäre eine überhastete Aufnahme der Ukraine ein katastrophales Signal für den gesamten Balkan, weiterhin ein Pulverfass.

Nicht alles Gold in der Ukraine

Leider versprüht ein rabiater Nationalismus sein tägliches Gift, auch seitens ukrainischer Intellektueller. Wenige Tage nach Kriegsbeginn forderte etwa der „PEN Ukraine“ gemeinsam mit anderen Institutionen zu einem „totalen Boykott von Büchern aus Russland auf der ganzen Welt!“ auf, da „Bücher zu Waffen gegen die Demokratie werden können“. Wie soll man diesen geistigen Exterminismus widerlegen außer mit einem Satz des chinesischen Dichters Ai Qing: „Die Stimmen des Volkes zu unterdrücken, ist die grausamste Form der Gewalt.“

Könnte es nicht sein, dass uns manch ein Werk erklärt, wo der Wahn imperialer russischer Größe herkommt? Wieso Stalin verehrt wird? Inwiefern die fehlende juristische Aufarbeitung vergangener Staatsverbrechen, die vom Westen mitgetragen wurde, mitverantwortlich ist für die größenwahnsinnige Hybris eines ehemaligen KGB-Offiziers?

Der offene Brief endet mit dem Aufruf: „Glory to Ukraine!“ Nein! Ruhm und Ehre gelten den Menschen, aber nicht einem Nationalstaat! Wenn wir dies wieder als Ideal hochhalten, können wir das europäische Projekt vergessen, inklusive der Versöhnung, die in Zukunft nötig sein wird, über alle Wunden und Gräben hinweg.

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ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher. Im August 2020 erschien sein Roman „Doppelte Spur“ bei S. Fischer.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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