War früher alles besser?
Ja

NOSTALGIE Wenn Menschen von einst erzählen, klingt das oft nach guter alter Zeit: kein Klimawandel, kein Glutamat, mehr Ruhe. Aber eben auch: keine Waschmaschine und keine Antibabypille

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.

Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen bis Donnerstag eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz. www.taz.de/streit oder www.facebook.com/taz.kommune

Kristina Schröder, 34, ist Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Zuerst habe ich mich zu jung gefühlt, um die Frage beantworten zu wollen. Aber beim zweiten Blick fiel mir auf, dass es auch mit 34 Jahren schon ein „früher“ gibt. E-Mails, Homeoffice und Smartphones sind große Erfindungen. Aber sie verleiten zu einer gefühlten Dauerverfügbarkeit, die irgendwann nicht mehr gesund ist. Viele von uns schalten im wahrsten Sinne des Wortes auch am Wochenende nicht mehr ab. Viele tun das, weil ihnen der Chef Druck macht. Viele machen es aber auch, weil sie sich selber unter Strom setzen. Für immer mehr Deutsche wird der Sonntag sogar regelmäßig zum Arbeitstag. In Berlin gibt es mittlerweile zehn verkaufsoffene Sonntage im Jahr. Das ist schön für alle, die dann endlich mal nachholen können, was sie sonst vor lauter Hektik nicht schaffen. Aber es zerstört den letzten Rest von Wochenrhythmus. Selbst die Parkscheinautomaten in den meisten Innenstädten machen sonntags frei. Der Sonntag war mal jenseits seiner religiösen Bedeutung vor allem eine gemeinsame Auszeit für die ganz große Mehrheit. Ein Tag, an dem man Zeit und Ruhe hatte, um den Kopf frei zu bekommen und gemeinsame Zeit mit der Familie und mit den Freunden zu verbringen, ganz ohne Blick auf die Uhr. Der Sonntag als echter Frei-Tag – das sollten wir uns retromäßig wieder stärker gönnen.

Clay Routledge, 35, erforscht an der North Dakota State University die Nostalgie

Nostalgie ist eine sentimentale Sehnsucht nach der Vergangenheit. Menschen reflektieren so bedeutsame persönliche Erfahrungen. Diese Erinnerungen sind in der Regel positiv gefärbt, es umgibt sie jedoch häufig ein Hauch von Traurigkeit, etwas Bittersüßes. Die Forschung hat gezeigt, dass nostalgische Reflexionen die Stimmung heben, das Selbstwertgefühl stärken und das Zugehörigkeitsgefühl fördern. Menschen werden nostalgisch, wenn sie traurig oder einsam sind. Sie bemühen die Nostalgie, um mit einer ganzen Reihe psychologischer Problemen fertig zu werden. Kurzum: Nostalgie ist gut für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden.

Cornelia Poletto, 40, ist Spitzenköchin in ihrem Hamburger Restaurant Cornelia Poletto

Die Koch- und Essgewohnheiten vieler Deutschen waren früher besser. Zum einen hat man sich früher viel stärker an den Jahreszeiten orientiert. Gott sei Dank erkennt man jetzt, dass ein Apfel direkt vom Baum besser schmeckt als einer, der tausende Kilometer zurückgelegt hat. Zudem hatte das gemeinsame Essen früher einen höheren Stellenwert. Man fand sich zu den Mahlzeiten zusammen und erzählte sich am Abend, was man den Tag über erlebt hat. Heute gibt es häufig Pizza vorm Fernseher. Auch die Kaffeehauskultur von früher fehlt mir. Statt mit Coffee-to-go voller künstlicher Aromen durch die Straßen zu hetzen, hat man sich früher für einen guten Kaffee bewusst eine Auszeit vom Alltag genommen. Ich bin für Kaffee mit Klatsch, statt Konsum mit Quatsch.

Theodor W. Adorno, geb. 1903, Philosoph und Autor von „Minima Moralia“

Früher, als es noch etwas wie die verrufene bürgerliche Trennung von Beruf und Privatleben gab, der man fast schon nachtrauern möchte, wurde als unmanierlicher Eindringling mit Mißtrauen gemustert, wer in der Privatsphäre Zwecke verfolgte. Heute erscheint der als arrogant, fremd und nicht zugehörig, der auf Privates sich einläßt, ohne daß ihm eine Zweckrichtung anzumerken wäre. Beinahe ist verdächtig, wer nichts „will“: man traut ihm nicht zu, daß er, ohne durch Gegenforderungen sich zu legitimieren, im Schnappen nach den Bissen einem behilflich sein könnte.

Nein

Florian Bernschneider, 25, FDP, ist der jüngste Bundestagsabgeordnete

Schon der griechische Philosoph Sokrates klagte: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität.“ Doch gibt es dafür Anhaltspunkte? Sicher, Meldungen in den Medien erwecken schnell den Eindruck, dass die „Jugend von heute“ nur noch Ego-Shooter spielt, jegliches Verantwortungsbewusstsein vermissen lässt, zu viel Alkohol trinkt und zunehmend verroht. Die Realität ist allerdings eine andere. So geht die Jugendkriminalität, man höre und staune, seit Jahren zurück. Auch von mangelndem gesellschaftlichen Verantwortungsgefühl junger Menschen kann kaum die Rede sein. Über 23 Millionen Menschen sind in Deutschland ehrenamtlich aktiv und leisten unentgeltlich jede Woche Großartiges. Jugendliche sind hier, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, überproportional vertreten. Junge Menschen bringen sich auch tagtäglich in unserer Gesellschaft ein und bereichern unser Zusammenleben; sei es in der Leitung von Jugendgruppen, als Betreuer im Sport- und Musikverein oder in politischen Jugendorganisationen. Früher war mitnichten alles besser. Es war einfach anders.

Ma Jun, 86, lebt als Rentnerin in der chinesischen Millionenstadt Peking

Natürlich sehne ich mich manchmal nach dem alten Peking. Peking war früher die schönste Stadt des Landes. Es gab viele schöne alte Tempel. Das ist jetzt alles weg. Vor allem war die Stadt nicht so groß. Aber tauschen möchte ich mit damals nicht. Wir hatten nicht genug zu essen. Es gab wenig Obst und Gemüse und auch nicht so viel Schweinefleisch. Den jungen Leuten heute geht es doch viel besser. Sie können in die Schule gehen, später studieren. Ich war nur ganz kurz auf der Schule. Lesen kann ich bis heute nicht. Aber rechnen, das ist eh viel wichtiger. Damit man beim Einkaufen nicht betrogen wird. Nur Kinder großzuziehen, das war früher einfacher. Sie waren immer dabei. Man musste sich nicht extra um sie kümmern. Heute wird so viel verlangt. Sie müssen auf eine gute Schule, sie brauchen ständig neue Sachen. Dennoch, glaube ich: Auch Kindern geht es heute besser. Sie lernen viel, können verreisen. Das ist gut fürs Leben.

Ursula Lehr, 72, war Bundesfamilienministerin und engagiert sich für Senioren

Vieles war früher auch schlechter. In den 50er-Jahren musste man noch die Windeln waschen, einweichen, kochen, bleichen. Das war grauenhaft lange Arbeit. Heute geht das zack, zack! Es gab damals keine Waschmaschinen, heute machen Sie die an, und es ist sauber. Es gab keinen Kühlschrank. Da brachte der Kutscher die Eisbrocken, die kamen dann in einen Eisschrank rein, wenn man den hatte, alles tröpfelte. Ein Kollege aus der Wissenschaft behauptet sogar: Allein die Erfindung des Kühlschranks hat zur Langlebigkeit beigetragen. Denn früher wurde alles gesalzen, wenn man Lebensmittel über den Winter bringen wollte. Da wurde gesalzen und geräuchert, die Bohnen etwa. Das kann krebserregend sein und ist der Gesundheit auch sonst nicht besonders förderlich. Nur die Erfindung des Kühlschranks hat das Leben also schon verbessert.

Justin Witzeck, 20, Philosophiestudent, hat die Frage auf taz.de kommentiert

Der Rapper B-Tight hat das treffend analysiert: „Früher war beschissener, früher war der Führer da!“ Der Grund, warum uns „früher“ so viel einfacher erscheint, ist, dass es vorbei ist, dass wir wissen, wie es abgelaufen ist, und wir es offensichtlich überlebt haben. Das kann man von der Zukunft natürlich nicht sicher sagen.