Vietnamesische Ukraine-Flüchtlinge: Erster Fluchtpunkt Kirchenkeller

Auch Vietnamesen flüchten aus der Ukraine nach Berlin. Sie stoßen hier auf ein europaweites Hilfsnetzwerk. Unklar ist für viele der Aufenthaltstatus.

Vietnamesische Ukraine-Geflüchtete in der Kirchengemeinde St. Aloysius in Berlin-Wedding Foto: Giáo Xứ Thánh Gia Berlin

Der Pullover, den Minh D. trägt, war einmal weiß. D. trägt ihn seit mehr als einer Woche und hat ebenso lange nicht mehr in einem Bett geschlafen. Am 3. März hat Minh D. die ostukrainische Stadt Charkiw verlassen, in die er vor 30 Jahren aus Vietnam ausgewandert war. Aus Charkiw wegzugehen sei ihm schwergefallen, sagt D. der taz, denn er hatte dort, wo es eine große vietnamesische Händlerszene gibt, ein Geschäft für fernöstliche Lebensmittel aufgebaut. Das musste er nun zurücklassen. Aber die Einschüsse kamen immer näher.

Jetzt steht der Anfang 50-Jährige vor der katholisch-vietnamesischen Kirchengemeinde St. Aloysius in Berlin-Wedding und trinkt einen Kaffee. Im Keller des Gebäudes ist der Gemeindekirchenraum zu einem Schlafsaal für vietnamesische Geflüchtete aus der Ukraine umgewandelt worden. Isomatten, Matratzen und Feldbetten stehen dicht an dicht. Jede Nacht schlafen hier zwanzig bis dreißig Personen, sagt Phuoc Van Ho vom Gemeindekirchenrat. Und man merkt dem erschöpften Mann an, dass die Sorge um die vielen Gäste ihn an seine Grenzen bringt.

Aber noch klappt alles: Die Decken haben Gemeindemitglieder und Freunde gebracht, ebenso Essen und Trinken für die Geflüchteten. Drei Toiletten gibt es für die Gäste. Eine einzige Dusche steht im Nachbargebäude zur Verfügung und ist in Dauerbenutzung, denn jeder, der nach einer Woche Flucht erstmals wieder ein Dach über dem Kopf hat, will den Schweiß vom Körper spülen.

Vietnamesen aus ganz Berlin sorgen für die Neuankömmlinge aus der Ukraine. Sie bieten Kurierdienste an oder stellen Wohnungen zur Verfügung, in denen man etwas komfortabler schlafen kann als im Gemeindesaal.

Europaweites Hilfsnetzwerk

Sobald der Krieg in der Ukraine begann, entstand ein europaweites Hilfsnetzwerk von vietnamesischen Migranten. Zuerst gründeten Vietnamesen in Rumänien eine Facebook-Gruppe mit Hilfsangeboten. Wer es zur ukrainisch-rumänischen Grenze geschafft hatte, wurde dort mit Pkws oder Bussen nach Bukarest abgeholt. In Polen haben vietnamesische Migranten am Grenzübergang ein Infozelt aufgebaut. Sie verteilen Tee, Kaffee, warmes Essen und Adressen für mögliche Zwischenstopps auf der Weiterreise – zum Beispiel die der St. Aloysius-Gemeinde in Berlin.

Dass in staatlichen vietnamesischen Medien so getan wird, als seien all diese Hilfsangebote von den vietnamesischen Botschaften initiiert, macht die zivilgesellschaftlichen Helfer richtig wütend. Das war ihre eigene Initiative, und sie tragen auch alle Kosten selbst.

Gemeinderat Phuoc Van Ho hat den Grundsatz, die Gäste nur eine Nacht oder zwei Nächte in der Gemeinde zur Ruhe kommen zu lassen, um sie dann zu verteilen. Das klappt, weil für den Löwenanteil der Vietnamesen aus der Ukraine Berlin nur Durchgangsstation und nicht Ziel der Flucht ist. Die vietnamesische Diaspora ist international vernetzt. Viele, die in Berlin ankommen, haben Verwandte in Prag, Leipzig oder Paris und wollen dorthin. Die Gemeinde bringt sie zu den passenden Zügen. Wer kein konkretes Reiseziel hat, wird zum Ankunftszentrum in Berlin gebracht.

Die taz hat eine Gruppe dorthin begleitet. Sie wurde in ein Zelt mit 20 Feldbetten geschickt, am nächsten Morgen registriert und danach nach Hannover gefahren.

Der Weg zum Bahnhof in Charkiw war hochgefährlich, erzählt Minh D. der taz. Es fielen Schüsse, und seine Familie musste in einem Keller ausharren. Das Auto hatten sie in Charkiw zurückgelassen, denn viele Ukrainer beschrieben eine Autofahrt als besonders gefährlich: Westwärts seien auf den Straßen Flüchtlinge unterwegs, ostwärts Militärfahrzeuge. Darum hatten viele Menschen Angst, auf der Fahrt beschossen zu werden. Die Zugfahrt bis zur polnischen Grenze hat fünf Tage gedauert.

„Herzlich empfangen“ in Polen

Viele afrikanische Studenten in der Ukraine berichten von rassistischen Diskriminierungen auf der Flucht, sowohl in der Ukraine und in Polen als auch durch die Bundespolizei an der polnisch-deutschen Grenze. Minh D. hat das nicht erlebt. „In Polen wurden wir herzlich empfangen mit heißen Getränken.“

Phuoc Van Ho vom Gemeindekirchenrat hat von einem einzigen vietnamesischen Geflüchteten von Schikanen gehört: „Eine Familie, die mit dem Auto unterwegs war, wurde von der Polizei angehalten und musste viel Geld bezahlen, um weiterfahren zu dürfen. Ich habe aber vergessen, ob das in der Ukraine oder in Polen war“, sagt er. „Alle anderen fühlten sich fair behandelt.“

Sorge bereitet der Gemeinde das Aufenthaltsrecht für die Vietnamesen aus der Ukraine. Nur etwa jeder Dritte der 10.000 Menschen mit vietnamesischen Wurzeln in der Ukraine hat die ukrainische Staatsangehörigkeit. Sie bekommen in Europa den Status als Kriegsflüchtlinge, so wie die Vietnamesen, deren Ehepartner oder Kinder ukrainische Staatsbürger sind. Für alle anderen gibt es in Deutschland bisher nur einen Touristenstatus bis Mai, ohne das Recht auf Arbeit. Es ist unklar, ob sie danach nach Vietnam ausreisen sollen. Das sei aber sei für fast alle unvorstellbar, sagt Helfer Ho: „Wir hatten einen einzigen Mann, der nach Vietnam wollte, aber als ich ihn am nächsten Tag zur vietnamesischen Botschaft bringen wollte, hatte er sich das anders überlegt.“

Minh D. sagt: „Ich will nach dem Krieg in die Ukraine zurück, Vietnam ist da zu weit weg. Darum bleibe ich in Europa.“ Eine Mutter mit drei jugendlichen Kindern nennt einen anderen Grund: „Ich habe keine Verwandten mehr in Vietnam, und ohne die finde ich keine Wohnung. Ich bekomme als alleinerziehende Mutter dort auch keine Unterstützung.“ Tatsächlich hat Vietnam bisher mit zwei Evakuierungsflugzeugen mehrere hundert Staatsangehörige aus Warschau und Bukarest abgeholt, die freiwillig nach Vietnam reisen wollten. Weitere warten noch auf diese Möglichkeit, aber die meisten wollen in Europa bleiben.

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