Obdachlosigkeit in der Pandemie: „Die Leute sind kälter geworden“

Obdachlose haben gerade ihren zweiten Coronawinter hinter sich. Ein Tag mit Lila und Alex, die beide in Berlin auf der Straße leben.

Ein Einkaufswagen mit vielen Plastiktüten in einem U-Bahnhof vor einer Rolltreppe

Initiativen schätzen die Zahl der obdachlosen Menschen in Berlin auf 10.000 Foto: Emmanuele Contini/imago

BERLIN taz | Wenn nach monatelangen grauen Himmeln in Berlin die ersten Frühlingstage anbrechen, erblüht auch das Stadtleben wieder. Ein leises Aufatmen geht durch Berlin; Cafés und Straßen füllen sich mit Menschen. Doch während die Temperaturen steigen und Corona immer mehr aus dem Blick gerät, ist für Obdachlose nur bedingt Besserung in Sicht. Sie müssen weiter mit nächtlichen Minustemperaturen und einer Pandemie kämpfen, vor denen sie sich nicht in den eigenen vier Wänden verstecken können. Viele von ihnen haben nun einen zweiten Coronawinter hinter sich, einen Winter mit Ansteckungsgefahr und weniger Hilfsangeboten.

So auch Alex. Der Mann in seinen Vierzigern steht an einem winterlichen Montag am Berliner Hauptbahnhof und winkt, er trägt schwarze Daunenjacke und Jogginghose, dazu eine knallrote Strickmütze. In seiner Hand hält er eine große blaue Ikea-Tasche, sein Zelt lugt an einer Seite heraus. „Ich habe eine Freundin dabei“, sagt er und deutet auf eine kleine Frau mit langen braunen Haaren am Rande des Eingangs. Ihre beige Weste über dem blauen Hoodie ist unübersehbar, dazu ein strahlendes Lachen: „Hi, ich bin Lila!“ Beim Gehen zieht sie ihr rechtes Bein nach. Wenn sie strauchelt und man sie fragt: „Geht’s?“, antwortet sie prompt mit: „Muss.“ „Die kann laufen, die will nur Mitleid“, sagt Alex. „Mitleid, das brauche ich am wenigsten!“, entgegnet Lila.

Wie viele der Betroffenen möchten beide anonym bleiben, die Namen in diesem Text sind deshalb Pseudonyme. Lila ist seit 22 Jahren obdachlos. Ein schwerer Autounfall in ihrer Heimat in Unterfranken brachte sie aus dem normalen Leben – zwei Mal sei sie klinisch tot gewesen, lag vier Monate lang im Koma. Danach versuchte sie, sich anderthalb Jahre im Rollstuhl zurück ins Leben zu kämpfen. Seit dem Unfall ist ihre rechte Seite spastisch gelähmt, von oben bis unten. Die Ärz­t*in­nen hätten sie aufgegeben, sagt sie, ihre Eltern ebenfalls. Für Lila war das keine Option. Sie wollte einen Neustart außerhalb ihrer Heimat: „Da wirst du blöd angeschaut. Das ist doch kein Leben. Also bin ich nach Berlin.“

Eine offizielle Statistik zu obdachlosen Menschen in Berlin gibt es nicht. Bei einer ersten Zählung im Januar 2020 in Berlin verzeichnete man knapp 2.000, Schätzungen von Initiativen gehen von bis zu 10.000 Menschen auf der Straße aus. Während der Pandemie brachen dazu noch viele Hilfsangebote ein: Laut einer Befragung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe vom Oktober 2020 mussten bundesweit ein Drittel der Hilfseinrichtungen ihre Angebote einschränken. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl an wohnungslosen Menschen.

Prinzip Housing First

Die rot-rot-grüne Regierung möchte an der prekären Situation etwas ändern. Im Koalitionsvertrag verspricht sie die Umsetzung des Masterplans „zur Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030“. Kern des Plans bildet das Prinzip Housing First: Die betreute Vermittlung von wohnungslosen Menschen in eigene Mietverträge ohne große bürokratische Hürden. Bedingungen gibt es trotz allem: Bestimmte Suchterkrankungen oder psychische Leiden gelten als Ausschlusskriterien – dabei sind diese oft Begleiterscheinungen von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Rund 80 Menschen fanden seit Projektstart im Jahr 2018 mit Housing First eine feste Bleibe. Und noch mehr Menschen sollen dadurch von der Straße geholt werden.

Für Alex kommt das nicht in Frage. Er hat eine Wohnung – und lebt seit 25 Jahren draußen, freiwillig. „Was soll ich zu Hause meine vier Wände anstarren? Das hier ist mein Leben.“ Was in Alexs Leben vorgefallen ist, spult er knapp ab: Aus Krasnojarsk in Sibirien komme er, dort habe er auf Diplom Kosmetiker gelernt. Ende der Neunziger nach Deutschland gekommen, arbeitete als Fußbodenleger, Koch, zuletzt in einer Druckerei. Gerade wartet er auf seinen nächsten Job. Die Zeit bis dann überbrückt er auf den Straßen Berlins. „Ich habe Angst, was im Leben zu verpassen.“

Berliner Senat ohne Daten

Wie die Begegnungen mit Lila. Vor zwölf Stunden hätten sie sich zufällig an der Turmstraße getroffen; Lila habe ihm einen Joint angeboten. Seitdem sind sie zu zweit unterwegs. „Wir gehen jetzt zur Lehrter Straße. Dort ist die Kleiderkammer.“ Alex schaut in den Himmel. Die gleißende Wintersonne fällt ihm ins Gesicht. Er schultert die Tasche nochmal neu auf. „Heute ist ein schöner Tag. Aber kalt.“ Wie viele Menschen ohne Obdach diesen Winter erfroren, durch Gewalt umgekommen oder an anderen Todesursachen gestorben sind, weiß niemand genau.

Dem Berliner Senat liegen keine Daten vor: „Die Senatssozialverwaltung erfährt von obdachlosen Kältetoten in der Regel nur durch die Presseberichterstattung.“ Laut BAGW-Schätzungen waren es im vergangenen Jahr 23 Menschen, im aktuellen Winter weiß man von drei Kältetoten. Berlin investierte letztes Jahr über 4,8 Millionen Euro in die Kältehilfe. Zu besonders kalten Zeiten stockt die Senatssozialverwaltung Plätze in Notunterkünften auf. „So konnten wir auch diesen Winter unser selbst gestecktes Ziel erfüllen: Wer ein Bett braucht, bekommt auch eins“, teilte ein Sprecher des Senats der taz mit.

In Notunterkünften gehe es rau zu

Für die zigtausenden obdachlosen Menschen standen zum Zeitpunkt der Anfrage im Schnitt etwa 1.100 Übernachtungsplätze zur Verfügung, etwa ein Zehntel der Betten blieb frei. In den Notunterkünften geht es rau zu, beschreiben viele. Die Stimmung sei oft aggressiv, Sachen würden untereinander gestohlen. Aber auch seitens der Security der Einrichtungen berichten viele Hilfesuchende Traumatisches. Viele ziehen es daher vor, sich dick einzupacken und draußen zu schlafen.

In der Lehrter Straße liegt die Kleiderkammer der Berliner Stadtmission. Seit der Pandemie steht ein großes weißes Zelt im Innenhof. Von Montag bis Freitag wird dort verteilt, was die Ankömmlinge suchen – Hygieneartikel, Jacken, Pullover. Alex raucht vor dem Zelt und betrachtet das Treiben. Die Mitarbeitenden laden Kästen mit Drogerieartikeln ab, übergeben Tüten an die Wartenden. „Erst Anmeldung und dann hinten anstellen“, ruft ihm eine Mitarbeiterin durch die Maske zu. „Ich weiß, ich bin öfters hier, aber im Zelt darf man nicht rauchen“, ruft Alex zurück.

„Gleich scheiße“

Was hat sich für ihn seit der Coronapandemie geändert? „Die Menschen sind kälter zueinander geworden.“ Ob sich seine Situation während der Pandemie und der Omikron-Welle verschlechtert habe? „Es ist gleich geblieben. Gleich scheiße.“ Vor dem Virus macht sich keiner von beiden Sorgen. „Corona will uns nicht“, sagt Lila und grinst. „Wir sind einbalsamiert. Mit Drogen und schieß mich tot was.“ Geimpft sind beide trotzdem. Lila erhielt ihre Vakzine vom Impfbus. Im Auftrag des Berliner Gesundheitsamtes fuhren im vergangenen Herbst vier Busse des DRK durch Berlin, um niedrigschwellige Impfmöglichkeiten zu schaffen. Laut Senat verimpfte man 12.500 Dosen; im Dezember ist das Angebot eingestellt worden.

Man muss aber weder geimpft, genesen oder getestet sein, um den Tagestreff der Gewebo am Alexanderplatz betreten zu können. Seit Dezember dient das obere Stockwerk des Hofbräu Wirtshaus werktags als Anlaufstelle für Obdachlose. Wo sonst Gäste unter blau-weißen Flaggen und eisernen Kronleuchtern bewirtet werden, können Ankömmlinge tagsüber Schutz vor den eisigen Temperaturen suchen. Hier gibt es Beratungsangebote und medizinische Versorgung. Alex wirft einen Blick auf die Essenskarte. „Das sieht heute nicht schlecht aus.“ Er nimmt ein Tablett mit einem Teller Bratwurst mit Sauerkraut entgegen und setzt sich zwei Bänke von der nächsten Person weg. Zwar gilt hier nicht die 3G-Regelung, aber weiterhin Masken- und Abstandspflicht.

Eine Ersatzfamilie

Auch hier gibt es eine Kleiderkammer. Lila stopft noch zwei Packungen Unterwäsche in ihre Ikea-Tüte. Alex und Lila nehmen oft mehr Kleidung mit, als sie benötigen. „An der Turmstraße ist eine Tischtennisplatte am gelben Container, da legen wir das dann aus und teilen die Kleidung“, erzählt Lila. Auf dem Weg zur U-Bahn grüßt Lila stoisch jede Person, die ihr entgegenkommt: „Hi!“ Manchmal murmelt jemand ein verlegenes „Hallo“ zurück, mal erntet sie einen irritierten Blick, die meisten wenden sich ab.

„Ich brauche eine Pause“, brummt Alex und setzt sich im U-Bahnhof zu zwei jungen Frauen auf die Bank, die sofort aufstehen und gehen. Alex schüttelt den Kopf. „Die machen gleich Platz. Die verabscheuen uns. Kriegst dann gleich auch Glas spendiert und alles.“ Lila will sich ihre Freundlichkeit trotzdem nicht nehmen lassen. „Menschen sind auch unnett. Sie ignorieren dich.“ Stört sie das? „Das hat mich mal genervt. Aber ändern lässt sich sowieso nichts.“ Lieber bleibe man unter denen, die man kennt. Die Ersatzfamilie.

Deshalb ist Lila immer an der Turmstraße: „Da kennen mich alle.“ Am Rande der Grünfläche an der Turmstraße ragt ein grell gelber Container aus dem Gebüsch. Die Tischtennisplatte ist schon üppig beladen: Kannen, Teepackungen und ein riesiger Topf säumen den Stapel Kleidung. Vier So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen verteilen Kaffee und servieren Teller mit warmen Essen. Von allen Angeboten ist es vor allem das Gespräch, das von den Menschen hier dankend angenommen wird. „Aufmerksamkeit ist das Beste, was du bekommen kannst für einen kurzen Moment. Anerkennung. Es ist gut, dass wir nicht vergessen werden.“

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