Ukrainische Flüchtlinge: Sie verlassen ihr Land

Viele Ukrai­ne­r:in­nen retten sich in angrenzende Länder. In der EU soll es für sie tolerantere Aufenthaltsregelungen geben.

Eine Frau hockt neben ihren beiden kleinen Kindern im Bahnhof

Eine Geflüchtete mit ihren Kindern im Bahnhof Przemysl an der polnisch-ukrainischen Grenze Foto: Beata Zawrel,NurPhoto/picture alliance

Es war die ukrainische Regierung selbst, die die Zahl der potentiellen Flüchtlinge aus dem attackierten Land stark beschränkte: Um gegen die russischen Invasoren zu kämpfen, wurde Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren die Ausreise verboten. In den sozialen Netzwerken waren am Freitag herzzerreißende Bilder von Busbahnhöfen zu sehen, an denen sich Väter von ihren aufbrechenden Familien verabschiedeten.

Gleichwohl stieg die Zahl der Menschen, die versuchten, das Land zu verlassen, am Freitag stark an. Auf der rund 1.000 Kilometer langen Route vom Osten des Landes zur Grenze im Westen stauten sich Autos, viele Menschen blieben dort stecken. Bustickets waren weitgehend ausverkauft, wegen der russischen Angriffe blieben Züge im Land vielfach einfach stehen oder fuhren nicht nach Plan.

„Die Lage ist sehr unbeständig und ändert sich stündlich“, sagte die ukrainische UNHCR-Sprecherin Victoria Andrievska am Freitagmittag der taz. Angesichts von schwerem Beschuss und Opfern unter der Zivilbevölkerung auch in Großstädten würden viele Menschen versuchen, ihre Häuser zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Diese Bewegungen seien „derzeit unvorhersehbar und lassen sich nur schwer verfolgen“. Entsprechend schwierig sei es, Hilfe zu organisieren. Genaue Zahlen könne sie nicht nennen, „aber es ist klar, dass es innerhalb des Landes zu erheblichen Vertreibungen von Zivilisten gekommen ist.“

Der UNHCR rechne damit, dass etwa 100.000 Menschen bereits ihre Häuser verlassen hätten. Man habe an verschiedenen Orten in der Ukraine Vorräte an Hilfsgütern deponiert und sei bereit, vor Ort dort zu bleiben und Hilfe zu leisten. „Doch die aktuellen Militäraktionen erschweren diese Hilfe sehr“, sagte Andrievska. Die UN stellen sich auf bis zu vier Millionen Flüchtende aus der Ukraine ein, sollte sich die Situation weiter verschlechtern.

Die westlichen Nachbarstaaten ermöglichten den Flüchtenden Berichten zufolge derweil eine unkomplizierte Einreise. Die Repu­blik Moldau errichtete Zeltlager an den Grenzübergängen Ocniţa im Norden und Palanca im Süden. Bereits am Donnerstag waren dort über 4.000 Flüchtende angekommen.

Die meisten aber dürften in einen EU-Staat flüchten. Dorthin können sie ohne Visum für zunächst 90 Tage einreisen. Voraussetzung dafür ist ein biometrischer Pass, den nur rund die Hälfte der Ukrai­ne­r:in­nen besitzen. Allerdings erklärten sowohl die Slowakei als auch Ungarn offiziell, alle Flüchtenden ins Land zu lassen, egal welche Dokumente sie vorweisen können. Auch wegen fehlenden Impfstatus werde niemand zurückgewiesen. In einem am Donnerstagabend veröffentlichten Dekret erklärte die ungarische Regierung zudem, dass neben allen Ukrai­ne­r:in­nen auch alle Bürger von Drittstaaten, die dort wohnen, Anspruch auf Schutz hätten. Das ermöglicht es Nichtukrainern, etwa den Tausenden belarussischen Flüchtlingen mit Wohnsitz in der Ukraine, in der EU Schutz zu erhalten.

Das Bundesinnen­ministerium will die 90-Tages-Frist für eingereiste Ukrai­ne­r:in­nen in Deutschland unkompliziert verlängern

Rumänien meldete am Freitag, dass binnen 24 Stunden mehr als 10.000 Menschen aus der Ukraine eingereist waren, mehr als doppelt so viele wie sonst. 3.660 seien weiter­gezogen, unter anderem nach Bulgarien und nach Ungarn. Elf Menschen hätten in Rumänien Asyl beantragt. Rumänien habe insgesamt 1.100 Plätze in Asylunterkünften, die zur Hälfte besetzt seien. Vorher hatte Rumänien erklärt, darüber hinaus notfalls theo­retisch eine halbe Million Flüchtlinge in temporären Notunterkünften beherbergen zu können. Auf Facebook bildete sich eine rumänische Gruppe namens Vereint für die Ukraine, mit 47.000 Mitgliedern, die kostenlose Unterkunft, Transport, Lebensmittel, Kleidung und Medikamente anbieten.

Neben den unmittelbaren Nachbarstaaten rechnen auch Länder mit großer ukrainischer Diaspora mit steigenden Ankunftszahlen. In Deutschland leben 331.000 Menschen mit ukrainischen Wurzeln, in Tschechien und Italien rund 200.000, in Portugal und den baltischen Staaten jeweils 50.000. Nach dem Ausbruch des Kriegs im Donbass 2014 verließen Hunderttausende das Land Richtung EU – doch nur rund 35.000 beantragten bis heute Asyl. Sie hatten andere Möglichkeiten, ein Aufenthaltsrecht zu erlangen. Das könnte auch diesmal der Fall sein.

Das Bundesinnenministerium etwa will die 90-Tages-Frist für eingereiste Ukrai­ne­r:in­nen in Deutschland unkompliziert verlängern, sodass sie auch ohne Asylverfahren in Deutschland bleiben können. Ungeklärt ist bislang, welchen Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis und Sozial­leistungen sie dann hätten.

Der Rat für Migration schlug am Freitag vor, von der sogenannten Massezustroms-Richtlinie der EU Gebrauch zu machen. Bei diesem bislang weitgehend ungenutzten Mechanismus, wird eine EU-weit koordinierte Aufnahme von Flüchtenden in Gang gesetzt, die keine individuellen und langwierigen Asylverfahren durchmachen müssen.

Die Menschen erhielten einen zeitlich befristeten Schutzstatus und Zugang zu Sozialleistungen und zum Arbeitsmarkt. Zunächst erhalten die Geflüchteten einen subsidiären Schutz für ein Jahr. Weiterhin müssten die Ankommenden nicht in Asylaufnahmeeinrichtungen, sondern dürften bei ihren Familien und Verwandten leben. Der Vorsitzende des Rates für Migration, Vassilis Tsianos, sagte: „Auch wenn der Schutzstatus zunächst begrenzt ist, sehen wir darin eine hervorragende rechtliche Möglichkeit, den fliehenden Ukrainern und Ukrainerinnen europaweit eine schnelle und menschenwürdige Aufnahme zu garantieren, die in Deutschland mit einer Aufenthaltserlaubnis verbunden ist.“

Angesichts der befürchteten Fluchtbewegungen nach Westeuropa verschwindet aus der Wahrnehmung, dass die Ukraine bereits seit dem Krim-Konflikt 2014 ein enormes inländisches Flüchtlingsproblem hat. Rund 2,3 Millionen Menschen zählt das UN-Flüchtlingswerk UNHCR als Binnenvertriebene oder vom Konflikt betroffen. Die meisten befinden sich nahe der „Kontaktlinie“ genannten Frontlinie im Donbass. Sie sind auf Versorgung durch den UNHCR und NGOs angewiesen. Doch die ist nun schwierig zu leisten.

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