Die Rede des russischen Präsidenten: Putins Geschichtsstunde

Die Rede des russischen Präsidenten Putin zur Anerkennung der ostukrainischen Separatistengebiete ist bizarr – und historisch. Was sie bedeutet.

Autokolonne mit russischen Flaggen

Inszenierter oder spontaner Autokorso in Luhansk am 22.02.2022 Foto: Ilya Pitalev/imago

MOSKAU taz | Eilig habe man den nationalen Sicherheitsrat zusammengerufen. Die Lage in der Ostukraine verschärfe sich, man müsse handeln. So raunte es durch Moskau am Montag. Das Eilige, Plötzliche, Unerwartete, so stellte sich bereits kurz danach heraus, war eine lang geplante Operation. Eine Schmierenkomödie nach Kreml-Art, die wie nie zuvor den russischen Feldzug gegen einen Nachbarstaat offenlegte, dem Moskau die Staatlichkeit aberkennt.

„Eine seit Langem überfällige Entscheidung“, nennt Putin die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine. Knapp eine Stunde lang verliert er sich in seiner wahrhaft historischen Rede, übertragen im Fernsehen, in hanebüchenen Details. Alle sollen es hören, was der aufgebrachte Mann, fast wie ein Besessener, seinem Volk – und nicht nur ihm – mitzuteilen hat mit seinen Ansichten, die er als einzig Wahres verkauft.

Die moderne Ukraine, führt Putin aus, sei eine Erschaffung Russlands. „Des bolschewistischen, des kommunistischen Russlands“, fügt er hinzu, hält sich an seinem Tisch fest und poltert weiter. Vor sich die Telefone, hinter sich die russische Flagge. Die Ukraine sei ein Produkt Lenins, ein Geschenk der Sowjetunion, mit dem all ihre ukrainischen Führungspersonen nichts hätten anfangen können. Eine „Kolonie mit Marionetten-Regime“ nennt Putin die jetzige Regierung in Kiew.

Russland musste „diesen Weg des Friedens gehen“

Seine Ausführungen, emotional, teils tief schnaufend vorgetragen, sollen erklären, dass Russland, dieses vermeintlich vom Westen tief bedrängte und stark bedrohte Land, gar keine andere Wahl gehabt habe, als „diesen Weg des Friedens“ zu gehen und den „Gequälten und Geschundenen“ in der Ostukraine beizustehen. Der russische Präsident sagt tatsächlich: „Russland hat alles getan, um die territoriale Integrität der Ukraine zu bewahren.“

Russlands Präsident Wladimir Putin

„Russland hat alles getan, um die territoriale Integrität der Ukraine zu bewahren.“

Bereits am Abend überqueren russische Truppen die Grenze zur Ukraine, um – so nennt es Moskau – die „Sicherheit in den Volksrepubliken zu gewährleisten“. Der Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, den Putin mit den „Oberhäuptern“ der beiden „Volksrepubliken“ kurz zuvor unterschrieben hat, enthält eine Klausel zum „militärischem Beistand“. Damit könnte Russland, wie bereits in den von Georgien abtrünnigen und von Russland ebenfalls anerkannten Gebieten Abchasien und Südossetien Tausende Soldaten in der Ostukraine stationieren. In den Separatistengebieten gibt es in der Nacht Feuerwerke.

Für Putin gibt es ein Land wie die Ukraine nicht. Sein Auftritt zeigt dessen moralische Vernichtung eines Staates, den Russland nie verstanden hat. Damit führt der Kremlherrscher seine Gedanken, die er bereits im vergangenen Sommer in einem Essay niedergeschrieben hatte, fort. Lenin habe eben Fehler gemacht, ohne an die Zukunft zu denken. Die Bolschewiken hätten sich dann mit allen Mitteln an der Macht halten wollen, deshalb dieser „Wahnsinn“, der so viele Nationalisten in der heutigen Ukraine gebäre.

Was das alles miteinander zu tun hat, versteht selbst in Russland niemand so recht. Aber Putin fährt fort mit seinem merk- wie denkwürdigen Exkurs. Die Unabhängigkeit der Ukraine in den 1990er Jahren wiederum sei ein „Fehler“ der Kommunistischen Partei unter Michail Gorbatschow. Fortan habe die Ukraine „mechanisch fremde Modelle kopiert“, die ihr „Radikale“ diktiert hätten. So drangsaliere Kiew sein Volk mit hohen Gaspreisen, verletze die Menschenrechte, verfolge die Opposition, begehe „Genozid“ an der russischsprachigen Bevölkerung.

Das ist Putins gern gebrauchter Begriff, um zu zeigen, wie schlimm es um die Ukraine angeblich stehe und wie gut es sei, dass das Land Russland als Nachbarn habe. Es ist eine verkehrte Welt. Eine, die allerdings bei vielen Russen greift. Die staatliche Propaganda tut seit Jahren Enormes, um die Bedrohung durch die Nato, die in Putins Augen auch Kiew mittrage, zur realen Angst der Menschen zu machen.

Wie ein Theaterstück von Zweitklässlern

Putins „Geschichtsstunde“ ging eine ebenfalls bizarre Sitzung des nationalen Sicherheitsrates voraus. Als live wird sie verkauft, die Uhr des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu zeigt allerdings seltsamerweise fünf Stunden vorher an. Die Sitzung wirkt wie ein versuchtes Theaterstück von Zweitklässlern: Nacheinander treten die Mitglieder des Rates – Russlands Außenminister Sergei Lawrow, Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu, Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew, Russlands Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin, Russlands Vorsitzende des Föderationsrates Walentina Matwijenko und andere – an das Redepult im prächtigen Katharinensaal des Kremls und flehen Putin geradezu an, die „Volksrepubliken“ anzuerkennen. „Die Zeit ist gekommen, Aufschub nicht mehr möglich“, raunt Matwijenko.

Äußerst peinlich: Sergei Naryschkin, seines Zeichens Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, einer der engsten Berater Putins. Er stockt, er weiß nicht recht, was er sagen soll, ähm, hmm, ja. Er verspricht sich und sagt gar den Satz, dass er sich für den Anschluss des Donbass an Russland ausspreche. Putin lächelt, Putin herrscht ihn an: „Darum geht es nicht. Setzen Sie sich!“ Der Oberlehrer weiß ohnehin alles besser.

Vorerst geht es in der Tat nicht „darum“, die Rede Putins legt allerdings nahe, dass die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine lediglich die Vorstufe zum Anschluss sein dürfte. Es war bereits bei der Krim 2014 ähnlich. Zudem steht offenbar in dem von Putin unterschriebenen Dekret, das das russische Parlament in einer ähnlich absurden Vorführung am Dienstag ratifizieren dürfte, dass Russland die „Volksrepubliken“ in seinen ursprünglichen Grenzen der Regionen Luhansk und Donezk anerkenne. Damit also auch die Gebiete, die derzeit von der Ukraine kontrolliert werden. Die Abgeordneten geben sich allerdings widersprüchlich.

„Warum macht man aus uns einen Feind?“, fragt Putin – und antwortet sogleich selbst: „Sie brauchen solch ein großes und selbstständiges Land wie uns nicht.“ „Sie“, der Westen, Putins offensichtliches Trauma, das die russische Führung stets beleidigt und nicht erst genommen auftreten lässt.

In dieser Rolle des „Obischenny“ – der Begriff des „Gekränkten“ ist ein sehr russischer, täglich gebraucht für jegliche auch noch kleinste Kritik an einem selbst – fährt Putin mit der Anklage seines Lieblingsfeindes fort. „Das treibt Amerika an. Ihr einziges Ziel ist es, uns zu bezwingen.“ Es ist gespenstisch. Und es ist Putins Prolog zu einem großen Krieg.

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