Die traumatisierte Clickworkerin

Im Zentrum des neuen Romans von Berit Glanz steht eine Frau, die für einen mickrigen Stundenlohn die Aufnahmen von Überwachungskameras sichtet. Solide Netzwerke und Panikattacken – die Digitalisierung erscheint in „Automaton“ ambivalent

Überwachungskameras erzeugen Bilderfluten Foto: Mendelex Photography/Shotshop/imago

Von Marlen Hobrack

Stundenlang geschieht nichts auf den Überwachungsaufnahmen. Aber dann tut sich ein Rätsel auf, das darin besteht, was nicht mehr zu sehen ist. In „Automaton“, dem zweiten Roman von Berit Glanz, überwachen nicht die Maschinen die Menschen; das Verhältnis von Überwachung und Überwachenden ist viel komplexer geworden. Wie auch in ihrem Romandebüt „Pixeltänzer“ widmet sich Glanz der Welt des Digitalen, übt Technokritik, ohne zugleich in eine dystopische Technoskepsis zu verfallen.

Im Zentrum des Romans steht die alleinerziehende Tiff. Sie ist Clickworkerin und verdient ihr Geld auf einer Plattform namens Automa. Für einen mickrigen Stundenlohn klickt sie sich im Akkord durch Bilder- und Videofluten, verpasst dem Material Zeitstempel oder Bildbeschreibungen. Als sie den Auftrag einer Firma namens ExtraEye antritt, ist allerdings nicht mehr ganz klar, ob ihre Arbeit dem Training und der Kontrolle von KI dient – oder ob sie die kostengünstige Alternative zum Einsatz von KI darstellt. Tiff muss die Aufnahmen von Überwachungskameras sichten, als sie einen bärtigen Mann entdeckt, der seinem Hund aus einem Buch vorliest. Die treuherzige Szene weckt ihr Interesse, aber eines Tages verschwindet Mr. Beard auf mysteriöse Weise.

Allmählich klickt es beim Leser, es tut sich eine Verbindung zur zweiten Erzählebene des Romans auf. Hier geht es um Stella, die als Freiwillige in einer Suppenküche aushilft und ihr Dasein als prekär Beschäftigte – zunächst in einer Fischfabrik, dann auf einer Cannabis-Plantage – fristet. An dieser Stelle soll nicht zu viel vom Plot vorweggenommen werden. Beide Frauen verbindet aber offensichtlich die Akkordaarbeit unter den Bedingungen eines skopischen Kapitalismus.

Berit Glanz: „Automaton“. Berlin Verlag, Berlin 2022. 288 Seiten, 22 Euro

Dieser Terminus wurde von der Soziologin Eva Illouz geprägt, skopisch (von skopein = betrachten) bezieht sich bei Illouz auf die Betrachtung der Körper. Aber man muss den Begriff weiter fassen: Bei Glanz, und in der Realität der digitalen Bildwelten, betrachten ja nicht nur Menschen Bildströme; Tiff, deren Name nicht zufällig auf ein Bildformat anspielt, betrachtet Überwachungsbilder, auf denen Überwachungspersonal zu sehen ist; sie dupliziert den überwachenden Blick. Auch Automatons wie Tiff könnten von ihren eigenen Webcams überwacht werden. Dieser skopische Kapitalismus wirkt wie eine dystopische Totalüberwachungswelt, die allerdings einen traurigen Witz enthält: Es geht hier zunächst einmal gar nicht darum, dass KI unsere Gewohnheiten ausspioniert; die Überwachung dient allein der Frage, wie wir arbeiten. Sie ist Selbstzweck.

Glanz erzählt souverän und spannungsreich, ihr Fokus liegt aber nicht auf einer geschliffenen Sprache. Stattdessen fokussiert sie auf Plot und Stoff – Aspekte eines Zeitalters der Überwachung. Auf einer abstrakteren Ebene – und das ist der Clou – verweist „Automaton“ auch auf Hegels Betrachtungen zur Automatisierung der Arbeit. In seiner „Philosophie des Rechts“ fragt er, ob nicht die Maschinen die abstumpfende, repetitive Arbeit übernehmen könnten – um den Menschen von ihr zu befreien. Aber bei Glanz ist man sich nie so sicher, wer hier der Automat(on) ist.

Der Stoff hätte als Krimi oder aber als dystopischer Thriller aus der Welt der Überwachungstechnologie erzählt werden können. Glanz entschied sich aber für eine andere Möglichkeit: Sie zeigt gleichsam auch ein utopisches Potenzial auf. Tiffs Click-Arbeit ist für sie ein Fenster zur Welt. Sie kann arbeiten, ohne das Haus verlassen zu müssen. Was ihr nicht nur als Alleinerziehende hilft; sie kann Geld verdienen, obwohl sie von furchtbaren Panikattacken gequält wird. Allerdings wurzeln die Panikattacken auch in einem ihrer Click-Jobs, bei dem sie durch Bildmaterial traumatisiert wurde. Obgleich sie die anderen Automatons nicht persönlich kennt, bilden sie ein solides Netzwerk, das Anteil nimmt an Tiffs Leben.

Der Stoff hätte als Dystopie erzählt werden können. Glanz zeigt aber auch ein utopisches Potenzial auf

Dieses solide Netzwerk wird auch von Menschen in der realen Welt erweitert: den Nachbarn Monika und Mikael. Und im Falle von Mr. Beard hat Tiffs Job tatsächlich Auswirkungen auf einen realen, weit entfernt lebenden Menschen.

Ob der Roman Tiffs Geschichte am Ende nicht in etwas zu viel Wohlgefallen auflöst, ist Geschmackssache. Sehr lange aber erhält der Text eine kluge Ambivalenz aufrecht. Ein und dieselbe Technik erlaubt Vernetzung und Überwachung. Die Technik ist zwar nicht neutral, aber sie besitzt eine gewisse Offenheit. Entscheidend ist, wie sie eingesetzt wird – und von wem. Allzu blinde Hoffnung auf ein Ende der mechanischen Arbeit sollten wir uns allerdings nicht machen.