Mein Kiew

Im Fernsehen sieht man gewaltige Wohnblöcke und breite Straßen. Und die Zerstörung. Die ukrainische Hauptstadt aber ist viel mehr. Eine Radtour durch Kiew, vor und während des Krieges

Checkpoint an einer der Ausfallstraßen von Kiew Foto: Emanuele Satolli/contrasto/laif

Von Bernhard Clasen

Es wird meine letzte Fahrt mit dem Rad durch Kiew werden. Und die Namen der Straßen, auf der diese letzte Tour beginnt, könnten symbolhafter nicht sein. Ich verlasse die Donezker Straße, in der ich sieben Jahre gewohnt habe. Kein Verkehr, nichts. Alleine mit meinem Rad und Gepäck mitten auf der Straße geht es zum Sewastopol-Platz. Was mögen sich die Menschen gedacht haben, die vor Jahrzehnten genau diesem Viertel Kiews die Namen der Orte verliehen, von denen aus der Krieg gegen die Ukraine losgetreten wurde?

Hier hinter dem Sewastopol-Platz hat ein Freund von meinem Nachbarn Alik vor Kurzem seine Wohnung verloren. Eine Rakete schlug ein. Wahrscheinlich war sie für den Flughafen Schuljany vorgesehen, der gerade mal einen Kilometer vom Sewastopol-Platz entfernt liegt. Wie praktisch, hatte ich immer gedacht, fast vor der Haustüre habe ich einen Flughafen. Heute bedeutet das ein erhöhtes Risiko für den eigenen Tod.

Der Airport ist schon in den ersten Kriegstagen zerstört worden. Ich hatte damals noch gedacht, die Einschläge, die ich da hörte, seien sicherlich weit, ganz weit weg. Es wirkt beruhigend, wenn man sich selbst belügen kann.

Früher fuhren auf dem Powitroflotskij-Prospekt Oberleitungsbusse. Doch an diesem Tag im Krieg gibt es weder Busse noch funktionierende Oberleitungen. Abgerissen wie nach einem heftigen Sturm hängen die Drähte über der Straße. Die Fahrt geht vorbei an zwei ausgebrannten Autos und weiter zur Russischen Botschaft. Wie eine Burg steht das Gebäude da. Die Fahne haben die Diplomaten, die nach dem Abbruch der Beziehungen das Land verlassen mussten, mitgenommen. Das russische Staatswappen aus Blech mit dem Doppeladler auf feuerrotem Hintergrund prangt indes noch an der mit Stacheldraht versperrten Eingangstür. Früher, also vor dem Krieg, standen hier oft Menschen, protestierten für die Freilassung ukrainischer Gefangener in Russland.

Kurz nach der Botschaft biege ich nach rechts ab, Richtung Bahnhof. Warum eigentlich? Ich bin doch immer geradeaus gefahren, Richtung Maidan, Richtung Kirchen und Richtung Truchaniw-Inseln. Wenn nur nicht der Krieg begonnen hätte, würde ich geradeaus fahren, wie fast jedes Wochenende früher.

Immer habe ich an der ukrainischen Hauptstadt geschätzt, dass hier alle Sehenswürdigkeiten im Zentrum konzentriert sind. Es reichte ein halber Tag, um sie alle abzufahren.

Erinnerungen an den April 2020. Die Coronapandemie hat Kiew erreicht. Und so treffe ich eine Entscheidung, die ich eigentlich schon früher hätte treffen sollen: Ab sofort benutze ich pandemiebedingt keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Ein Fahrrad musste her, ein Klapprad.

Und allen Unkenrufen zum Trotz: Es hat gut geklappt mit meinem Klapprad. Mit einer gelben fluoreszierenden Jacke und einer Menge roter Rücklichter fühlte ich mich im Verkehr der ukrainischen Hauptstadt Kiew sicher. Passiert ist mir nie etwas. Mehr noch: Als Fahrradfahrer war man in einem rechtsfreien Raum. War der Autoverkehr zu dicht, wechselte man einfach auf die breiten Trottoirs – und keiner beschwerte sich deswegen. Im Gegenteil: Häufig entschuldigten sich Fußgänger, dass sie im Weg seien. Für stark belebte Straßen hat sich Oberbürgermeister Vitali Klitschko etwas Besonderes einfallen lassen: Er ordnete an, dass auf allen viel befahrenen Straßen Kiews ein eigener Streifen für Busse und Fahrräder reserviert wurde.

Zwanzig Fahrradminuten sind es vom Sewastopol-Platz, in dessen Nähe ich wohnte, zum Prospekt Peremogi. Der „Siegesprospekt“ ist eine der längsten Straßen der Hauptstadt. Fünf U-Bahn-Stationen säumen den Prospekt. Dieser mündet direkt in den Bessarabischen Markt. Dieser ist mit fast 3.000 Quadratmetern eine beeindruckende Markthalle. Wer die riesige Markthalle am Bessarabischen Platz betrat, fühlte sich an einen Ort irgendwo im Orient versetzt. Hier war es laut, man hörte und sah, wie die Kunden mit den Händlern um den Preis feilschen, Marktfrauen sprachen die Vorübergehenden an, boten ihnen ein Stück Wurst oder einen Apfel an, usbekische und aserbaidschanische Händler verkauften Nüsse, Pistazzien, Gewürze und getrocknete Früchte. Der Bau ähnelt einem Theater. Wer sich hier mit Obst und Gemüse eindecken wollte, wurde garantiert fündig, doch was Angebot und Preise betraf, näherte sich der Markt den Edelboutiquen an. Für westliche Geldbeutel zwar seltener ein Problem, doch einfache KiewerInnen traf man hier kaum noch. Am Bessarabischen Markt lohnte es sich, durch die Unterführung zu gehen. Kaum war man die Treppen hinabgestiegen, tat sich eine neue unterirdische Welt auf mit Geschäften für Lebensmittel, Fotokopien, Sexartikel, Käse, Kosmetik und kleinen Cafés mit drei oder vier Tischen.

Kiew Die Evakuierung von Zivilisten aus ukrainischen Städten stößt weiter auf Schwierigkeiten. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von rund 18.000 Menschen, die aus Kiew und Umgebung evakuiert werden sollten. Im Dorf Demydiw nördlich der Hauptstadt sollen dabei russische Truppen auf ukrainische Polizisten geschossen haben. Ukrainischen Angaben zufolge starb ein Polizist. Insgesamt seien aus der Ortschaft 100 Zivilisten in Sicherheit gebracht worden. Ukrainische Medien veröffentlichten Bilder aus Irpin bei Kiew, die zeigten, wie alte und kranke Menschen auf Tragen in Sicherheit gebracht wurden. In Worsel nahe der Hauptstadt wurde ein Kinderheim evakuiert.

Mariupol In der Hafenstadt Mariupol funktioniert der vereinbarte „humanitäre Korridor“ weiterhin nicht. Die Konfliktparteien gaben sich dafür gegenseitig die Schuld.

Sumy und Charkiw In der Stadt Sumy trafen am Mittag Busse ein, die Zivilisten in sicherere Gebiete brachten. Auch in Enerhodar sowie in Isjum nahe Charkiw im Nordosten kam es zu ersten Transporten. (taz, dpa, ap)

Heute, mitten im Krieg, gibt es kaum mehr Essbares in Kiew zu kaufen. Die Regale der Supermärkte haben sich geleert, die Medikamente in den Apotheken sind knapp geworden. Noch funktionieren Wasser-, Gas- und Stromversorgung. Noch.

Der Bessarabische Markt markiert den Beginn der Prachtmeile Chreschtschatyk. Weltweit berühmt geworden ist die Straße und der sich an diesen anschließende Platz „Maidan“ mit der gleichnamigen Maidan-Bewegung. Damals, im Februar 2014, stand dieser Platz voller olivgrüner Zelte. Schreie, Schüsse, Lärm, Gesang patriotischer Lieder und immer wieder offene Särge, die mit dem Ruf „Helden sterben nie“ über den Platz getragen wurden, prägten damals das Bild des Maidan. In den offenen Särgen lagen bei den Demonstrationen, die gegen den autoritär herrschenden Staatschef Wiktor Janukowytsch auf die Straße gegangen waren, getötete Aktivisten. Man nennt sie „die Himmlische Hundertschaft“. Ihnen sind auf einer nahen Anhöhe Denkmäler und Gedenksteine gewidmet. Kaum ein Staatsgast, der nicht hier einen Kranz Blumen niedergelegt hätte. Fast zu jeder Tageszeit sah man Menschen, die diese Straße, vorbei an den Porträts getöteter Demonstranten, nachdenklich und trauernd hinaufgingen. Bis 2014 war dies die Institutskaja Straße, heute heißt sie „Allee der Helden der Himmlischen Hundertschaft“.

Nun geht es weiter mit dem Rad, aber bergauf und zu Fuß, Richtung Rada, dem Parlamentsgebäude mit seiner gläsernen Kuppel. Ein historisches Gebäude. Hier hat der Oberste Sowjet der Ukraine am 24. August 1991 die Unabhängigkeit der Ukraine erklärt.

Gerade einmal hundert Meter sind es von hier zum Watutin-Denkmal. Der sowjetische Armeegeneral Nikolaj Watutin hatte Kiew von der Wehrmacht zurückerobert. Er erlag Anfang 1944 nach einem Attentat durch ukrainische Nationalisten seinen Verletzungen. Kein Wunder, dass dieses Denkmal immer wieder Gegenstand von Angriffen der Nationalisten war, die es lieber heute als morgen entfernt hätten. Doch unter diesem Denkmal liegen die sterblichen Überreste des Generals. Und so wagte man es dann doch nicht, dieses Denkmal zu schleifen.

Weiter geht es durch das Regierungsviertel auf der Hruschewskyj-Straße, an der chinesischen Botschaft vorbei, zur U-Bahn-Station Arsenalna. Auch diese Gegend ist in den vergangenen Tagen schwer beschossen worden. Die dortige Metrostation gilt mit einer Tiefe von einhundertundzwei Metern als eine der tiefsten U-Bahn-Stationen weltweit. Auf der Rolltreppe verbringt man einige Minuten, bis man unten angekommen ist.

Nun ist diese U-Bahn-Station zum Zufluchtsort vor den russischen Luftangriffen geworden. Immer mehr Menschen, Frauen, Männer, Kinder, gehen gar nicht mehr nach Hause, sondern übernachten hier.

Nur wenige Minuten von der U-Bahn-Station liegt das Höhlenkloster. Hier befindet sich der Sitz der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. Gerade in diesen Tagen ruft deren russlandfreundliche Haltung den Zorn der UkrainerInnen hervor. Wenige Tage nach der russischen Invasion hatte Erzpriester Andrej Tkatschew die russische „Sonderoperation“ gerechtfertigt. Nun fragen sich viele UkrainerInnen in den sozialen Netzen, was moskaufreundliche Mönche eigentlich im Zentrum des ukrainischen religiösen Lebens zu suchen haben.

Eindrucksvoll ist dieses Kloster, vor allem wegen seiner Höhlen, gleichwohl. Leicht geduckt muss man sich durch diese bewegen. Offensichtlich waren die Menschen vor einigen Hundert Jahren deutlich kleiner als sie es heute sind. Die Höhlen dienten lange Zeit Mönchen als Einsiedelei, in der sie völlig von der Welt abgeschieden beteten und meditierten. Wer durch diese dunklen Gänge, nur mit einer Kerze in der Hand, wandelt, spürt die Energie, die von diesen Räumlichkeiten ausgeht. Tief beeindruckt und sichtlich entspannt verlassen auch bekennende Atheisten die Höhlen des Klosters. Nach einem Gang durch diese Gänge atmet man langsamer, tiefer, entspannter.

Nun fahren wir zum Michaels-Kloster. Schon von weitem gleißen dessen Kuppeln im Licht der Sonne. Es scheint, als würde es dort niemals regnen. Wer durch das große Tor geht, findet sich auf dem Kirchenvorplatz wieder. Hier hatte die Kirche 2013 und 2014 den Maidan-Protestierern Schutz geboten. Hier standen viele Zelte der Protestierenden, wurde Essen verteilt, Kranke von Sanitätern gepflegt. Und auch hier wird der Besucher im Inneren der Kirche, dessen Gold wie ein Heiligtum glänzt und leuchtet, im Schein der Kerzen und mit den Stimmen eines singenden Frauenchors von einer Ruhe erfasst, die er aus dem Höhlenkloster kennt.

Früher fuhren die Oberleitungsbusse. Abgerissen wie nach einem Sturm hängen die Drähte über der Straße

Hundert Meter weiter ist es vorbei mit der Harmonie. Nun steht man auf einem Platz, vor sich den 1982 errichteten Bogen der Völkerfreundschaft, ein gewaltiges Halbrund aus Titan, 50 Meter im Durchmesser. Er soll die Freundschaft zwischen den Brudervölkern der Russen und der Ukrainer symbolisieren und an den Vertrag von Perejaslav erinnern. In diesem kleinen Ort etwa einhundert Kilometer flussabwärts von Kiew haben im Jahre 1654 der ukrainische Hetman Bohdan Chmelnyzkyj und Abgesandte des Moskauer Zaren ein für die Geschichte folgenschweres Abkommen unterzeichnet. Chmelnyzkyj stellte das Hetmanat unter den Schutz Moskaus.

Für die Kosaken war das nichts weiter als ein gewöhnlicher Treueeid – quasi auf Augenhöhe –, der ihnen Rechte und Privilegien sicherte. Moskau sah das völlig anders. Mit dem Vertrag von Perejaslav begann die Eingliederung der Ukraine in den russischen Staat. Kein Wunder, dass der Bogen heute deplatziert wirkt, er erinnert zu sehr an Moskaus Hegemonie. Wegräumen kann man ihn nicht, mit offizieller Missachtung strafen geht auch nicht. Aus der Nähe macht das Bauwerk nicht mehr den besten Eindruck, die Figurengruppen zu seinen Füßen wirken antiquiert, umrahmt wird das Monument von einem Rummel und einem Freilichttheater.

Nach 2014 hat sich das Unwohlsein in der Bevölkerung ob dieses Bogens noch verschärft. Was für eine Freundschaft kann man mit Russland pflegen, wenn im Donbass russische Soldaten gegen ukrainische kämpfen? 2017 bemalten Aktivisten den Bau in den Farben des Regenbogens, nannten ihn „Bogen der Vielfalt“. Doch viele Konservative und Rechtsradikale wollten das auch nicht, erschien ihnen das doch eher ein Aufruf zur homosexuellen Liebe zu sein. Im November 2018 malten dann andere Menschen einen riesigen Riss auf den Bogen. Dieser sollte zum einen die zerrissene Beziehung zwischen beiden Völkern zeigen, und gleichzeitig auf die in Russland festgehaltenen politischen Gefangenen aus der Ukraine hinweisen.

Und nun geht es steil bergab, wer auf seinem Rad nicht ganz sicher ist, sollte lieber an einer Stelle absteigen, hinunter zu einer Fußgängerbrücke. Nun beginnt etwas, was man in einer Großstadt wie Kiew nicht erwartet hätte: eine fast autofreie Insel.

Die Truchaniw-Insel ist der Naherholungsraum für Millionen Hauptstädter. Wer diese Insel besucht, hört keinen Straßenlärm, höchstens Vogelgezwitscher und das Quaken von Fröschen, am Sandstrand das ausgelassene Lachen von BesucherInnen, die vor einer Flasche Bier und einem kleinen Grill sitzen und das Wochenende genießen. An den Wochenenden sah man Jogger, die über die Insel trabten, Radfahrer und mitunter sogar ein Auto mit Sondergenehmigung. Zu Fuß sind es vom Maidan auf die Insel gerade einmal dreißig Minuten. Mit einer Matte unterm Arm und einem Picknickkorb hatte man schon alles, was man für einen netten Nachmittag benötigte. Wer unbedingt seinen Kick haben will, kann von der Brücke springen, natürlich von einem Seil abgesichert. Gerade an den Wochenenden wird ständig von der Brücke gesprungen.

Heute macht niemand mehr ein Picknick auf der Truchaniw-Insel.

Wer am Ende der Insel nicht kehrtmachte, sondern weiterfuhr, kam in den Muromez-Park. Dahinter sind die Wege nicht mehr geteert. Auch Wanderer verirrten sich nur selten in die Natur. Lediglich ein paar Angler fischten am Ufer des Desenka-Flusses. Und man kann schwimmen und sich sicher sein, dass niemand das Gepäck klaut.

Foto: Eine Schönheit ist bedroht. Die Innenstadt von Kiew vor dem Krieg Foto: Guillaume Herbaut/VU/laif

Hier konnte man picknicken, sich im Sommer die Badehose anziehen und schwimmen gehen. Allenfalls wurde man ab und zu mal von einem Motorboot in weiter Ferne daran erinnert, dass man sich ja eigentlich in einer Großstadt befindet. Nach so einem Bad sich in der heißen Sonne wieder zu wärmen und ein zweites oder auch drittes Frühstück einzunehmen, das waren für mich die Highlights in Kiew.

Heute angelt wohl niemand mehr am Desenka-Fluss. Es kommt gewiss auch kein Motorboot vorbei. Die in der Stadt verbliebenen Kiewer verbergen sich in den U-Bahn-Schächten oder zu Hause.

Verbrannte Häuser, wo früher eine beliebte Vorstadt wuchs

In der Kiewer Vorstadt Hostomel sind tschetschenische Kämpfer eingetroffen. Eine Freundin aus dem Ort, die gerade noch rechtzeitig fliehen konnte, berichtet, diese seien brutal, gewalttätig, vergewaltigten und mordeten. Vierzig Nachbarn hätten keinen Kontakt mehr zur Außenwelt, berichtet sie, ihr Haus sei abgebrannt. Menschen, mit denen sie noch vor zwei Wochen ein paar Worte gewechselt hatte, seien spurlos verschwunden.

Den einzig schlimmen Vorfall, an den ich mich in Hostomel erinnern kann, war ein böser Hund, der mir einmal bei einer Radfahrt dort im Wege stand. Verträumt war ich auf dem schönen Fahrradweg neben der Ausfallstraße aus Kiew hinausgefahren, als er plötzlich vor mir stand, dieser Hund. Und so hatte ich mich zwischen zwei Risiken entscheiden müssen: den Versuch unternehmen, irgendwie dem Hund zu entkommen oder über die belebte Straße gehen und einen Unfall riskieren. Ich entschied mich für Zweiteres.

Doch für meinen Mut wurde ich in Hostomel belohnt. Verschlafen wirkte das 20.000 Einwohner zählende Städtchen – und ehrgeizig. Die Stadtverwaltung hatte sich einiges vorgenommen, man wollte Touristen anziehen. Und so hatte die Stadt ihre Reize. Wie Pilze schossen neue Hochhäuser in die Höhe, das Bauen schien kein Ende zu nehmen, Gehwege und Radwege wurden ausgebaut und mitten in der Stadt ein kleiner See mit einem Strand und Umkleidekabinen eingerichtet. In ein paar Jahren, so hoffte man, würde der Frachtflughafen von Hostomel zu einem internationalen Passagierflughafen umgebaut werden.

Teile der Nachbarstadt von Hostomel namens Irpin sind heute von den russischen Bomben und Raketen dem Erdboden gleichgemacht. Die Einwohner werden zu Tausenden evakuiert oder fliehen zu Fuß durch die Wälder in Nachbarorte und nach Kiew.

Noch vor zwei Wochen war Irpin eine prestigeträchtige Adresse. Man hatte in dem Ort mit seinen 70.000 Einwohnern alles getan, um die Infrastruktur auszubauen. Wer das nötige Kleingeld besaß, zog nach Irpin. Hier war es schön, nicht ganz so teuer wie in Kiew und sehr grün. Am Flussufer konnte man sich auf eine Holzbank setzen. Und wenn man in diesem kleinen Fluss schwamm, musste man nur darauf achten, dass man sich nicht in einer der Wasserblumen verhedderte. Wer an dieses Flüsschen ging, tat das meist mit einem Schlauchboot, einer Flasche Bier und einer geselligen Begleiterin. Und wenn man dann wieder an Land ging, warf man entweder den eigenen Grill an oder ging barfuß zum Verkaufsstand, bestellte sich Pommes, ein Bier oder auch einen Fisch und setzte sich wieder ans verträumte Wasser, einfach nur, um dem Spiel der Wellen zuzusehen.

Dies scheint Jahrzehnte entfernt. Doch so war es noch im letzten Sommer.

Bernhard Clasen ist taz-Korrespondent in Kiew. Derzeit hält er sich außerhalb der Ukraine auf.