Wenn der Kommissar in den Schubladen kramt

Beim Stammtisch von Kölns pensionierten Kriminalpolizisten werden nicht nur die alten Heldengeschichten von Schleyer-Entführung und Lafontaine-Attentat erzählt. Thema sind auch damalige Gegner – etwa die Anti-Kriegsdemonstranten. Die hatten oft sogar recht, sagen die Ex-Kriminaler heute

VON CLAUDIA LEHNEN

Sein Gehirn muss ein Zettelkasten sein. Die Augen hängen für einen Moment am Himmel, dann senkt sich sein Blick wieder, das Bierglas wandert in die linke Hand. Siegfried van Almsick kramt in einer der überquellenden Schubladen des Zettelkastens. Es ist Stammtisch der pensionierten Kölner Kriminalpolizistenkollegen. Bis zu 20 ehemalige Beamte vom Staatsschutz treffen sich zur Wanderung auf den Trampelpfaden ihrer Erinnerungen. Heute stehen sie vor der Wurstbraterei am Schokoladenmuseum und werfen sich gegenseitig Stichworte zu. Die Geschichte beginnt.

„Schleyer“, ruft einer und alle nicken betreten. „Lafontaine“, sagt ein anderer und van Almsick weiß, dass er nun an der Reihe ist. Seine Schirmmütze wippt aufgeregt und van Almsick erzählt, dass dem damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine 1990 kein Haar gekrümmt worden wäre – wenn nur alle auf ihn gehört hätten. „Ich hätte die Frau weggeschickt, aber der Referent meinte, sie wolle ja nur ihre Blumen überreichen“, sagt der 64 Jahre alte Kriminalhauptkommissar außer Dienst, der damals in der Mülheimer Stadthalle die Einsatzleitung inne hatte. Van Almsicks Oberkörper schnellt von der einen zur anderen Seite. „Ich konnte nur noch auf die Bühne springen, die Frau hatte ihn schon am Hals erwischt.“

Die Erzählungen desjenigen, der den seit 25 Jahren bestehenden Stammtisch organisiert, sind atemlos. Die Einleitung lässt er meist aus, er springt auf den Erinnerungszug, wenn die Geschichte ihren Höhepunkt schon fast erreicht hat. Wahrscheinlich gibt es einfach zu viel zu erzählen. Die Vollständigkeit muss leiden unter dem erdrückend umfangreichen Material. „Wir haben Stoff für mindestens 30 Jahre Stammtisch“, behauptet Heinrich Pietzka lachend.

Was in der Erinnerung einen prominenten Platz einnimmt, sind auch die zahlreichen Demonstrationen der Linken, die den Beamten fast jedes Wochenende weggefressen hätten. „Wir hatten in den 70er Jahren teilweise um die 300 Demonstrationen im Jahr“, sagt Pietzka.

So eine Demonstration gegen Krieg, Rassismus oder Patriarchat konnte ab und zu auch Gewissensbisse auslösen, wie die Ex-Staatsschützer heute einmütig sagen. Van Almsicks Mützenschirm schnellt nach oben, seine Augen werden groß und er sagt: „Sicher haben wir oft gedacht: Die haben ja Recht!“ Pietzka nickt zustimmend und beide sehen dabei aus wie Väter, die im Gespräch mit dem aufmüpfigen Sprössling Anekdoten eigener Schandtaten hervorkramen, die das „Aber“ allerdings schon im Gepäck haben. „Aber ein Polizist kann nur nach Recht und Ordnung handeln“, sagt van Almsick.

Neben den gesammelten Heldengeschichten klingen in der Runde der Ruheständler auch leise Töne an. Viele unverarbeitete Geschichten haben sich im Laufe von über dreißig Dienstjahren nämlich auch angesammelt. Und Peter Alexander Jäckel, ehemaliger Oberkommissar, wühlt lieber nicht, wenn er eine dieser Schubladen öffnet. Er sagt, von der Schleyer-Affäre habe er „sehr viel verdrängt“. Die grauen Augen fixieren ein Bild, das nur er sehen kann, wenn er sagt: „Das kann man sich gar nicht vorstellen, wie das ist, die Toten rumliegen zu sehen.“

Plötzlich erzählt er davon, dass der Ruhestand auch nichts Schlechtes sei. Die Liebe zur Philosophie habe er entdeckt. Und zur Malerei. Mit der Künstlergruppe „sichtart“ malt er zu berufsverwandten Themen wie „Gewalt“ oder „Spuren“. Die Schleyer-Geschichte ist schon zu Ende. Die Schublade ist zu.