Für immer Siedler bleiben

Eine patriotische, jedoch höchst subjektiv chiffrierte Malerei ist in der Ausstellung der amerikanischen Künstlerin Georgia O’Keeffe in der Fondation Beyeler bei Basel zu sehen

Georgia O’Keeffe, „Pelvis with the Distance“, 1943, Indianapolis Museum of Art at Newfields Foto: Georgia O’Keeffe-Museum/2021, ProLitteris, Zurich

Von Ulf Erdmann Ziegler

Im November 1887 auf einem Milchbauernhof in Wisconsin geboren, hatte Georgia Totto O’Keeffe mehr als 98 Jahre vor sich. Dass sie Farben, Flächen und Formen dort sah, wo andere eher die Gewöhnlichkeit eines Weizenfeldes vermuteten, ist ihr selbst früh aufgefallen. Ausgebildet in Chicago und New York, kreuzten sich ihre Wege gelegentlich mit dem Fotografen, Galeristen und Impresario Alfred Stieglitz. Sie schickte ihm aber ihre forschen, konstruktivistisch anmutenden Kohlezeichnungen über eine Botin. Er stellte sie aus; es folgt eine Amour fou mit dem 23 Jahre älteren Mann. Er empfahl ihr, von Aquarellen zu lassen und zur Ölmalerei zu wechseln. Der Rest, möchte man meinen, sei Geschichte.

Aber welche? Ist sie eine Illustratorin von Stereotypien des amerikanischen Westens, eine unendliche Quelle für wolkige Kalenderblätter, das berühmteste Aktmodell der modernen Fotografie an deren Beginn? Oder eine Art Edward Hopper natürlicher und übernatürlicher Erscheinungen? Die US-Version von Frida Kahlo? Eine ins „Geistige“ der Kunst emigrierte Phantastin wie Hilma af Klint, plus 1A-Marketing?

In Europa ist die Malerin Georgia O’Keeffe jedenfalls erst in diesem Jahrhundert angekommen. Die Retrospektive des Centre Pompidou macht gerade in Riehen bei Basel, in der Fondation Beyeler, Station. Sie reicht vom Laid-back-Aquarell „Ohne Titel (Zelttür bei Nacht)“, 1916, bis zum Gemälde „Meine letzte Tür“ (1952–54), eine ironische Anleihe bei der Farbfeldmalerei. Die Tür ist hier die schwarze Aussparung in einer nahezu weißen Wand.

Anfangs ringt sie sehr mit Stieglitz’Rat: die Ölfarbe ist zu massiv aufgetragen, kommt aber nicht in Bewegung. Bald findet sie heraus, dass die Oberfläche für sie nichts hergibt. Es geht nicht ums Malen, es geht ums Schauen. Im Akt des Schauens geht es um das Fühlen. Und was dabei wächst, ist ein malerisches Gefühl für die Unverwechselbarkeit eines Ortes.

Von ihrer Terrasse in New Mexico aus betrachtet sie die öden Berge, die lokal „Badlands“ genannt werden. In ihrem Bild „Grey Hill Forms“ sind sie böse Geister geworden, fast immateriell, in einem grauenhaften kollektiven Ritus festgehalten; in „Black Hills with Cedar“ spreizt eine Riesin ihre rosa Beine, die schwarzen Brüste gegen den blauen und weißen Himmel gewölbt. Die nahe, scharfe grüne Zeder ist dem monumentalen Körper als Scham oder Sichtblende vorgestellt.

Nie kommt ein Mensch ins Bild, es sei denn als Schädel. Und der Rehbock materialisiert sich als frontal betrachtetes Skelett vor dem Horizont, seine Hörner die Bilddiagonale auslotend. Anfangs bringt sie ihre Motive mit zurück an den Lake George, upstate New York, wo Stieglitz auf einem Anwesen seiner Herkunftsfamilie weilt; sie malt sie dort. Während er, am Anfang jedes Jahres und dann für sein ganzes Leben ihr in New York eine Ausstellung einrichtet, baut sie ihre Residenzen im Westen aus, von der einen zur anderen pendelnd zwischen den Jahreszeiten. Sie tankt die Materialität der Landschaft, hier kristallin, dort Staub. Was in Reproduktionen ihrer Gemälde als manieristische Wolkigkeit erscheint, ist bei näherer Betrachtung in Farbe übersetztes Licht.

Renzo Pianos Pavillon für die Fondation Beyeler hat einiges Tageslicht von der Decke her, aber das winterliche Westlicht reicht direkt nur partiell durch Tore in die Ausstellungsräume und wandert dort, im Sekundentakt, in goldenen Flammen weiter. Der Rest ist künstliche Beleuchtung, was aber während des Nachmittagsbesuchs des Kritikers auf krasse Weise illustriert wird, indem diese ausfällt. Der Ausstellungsbereich wird nicht geschlossen, aber es gibt kaum noch Leute dort. So wandern wir wenigen Verbliebenen durch dunkel-grau-blaue Höhlen und übernatürlich durch die bald untergehende Sonne beleuchtete Räume. Man ahnt das Skelett dieser Architektur.

Georgia O’Keeffe liegt kunstgeschichtlich zwischen Vincent van Gogh und Ed Ruscha

So wird, wenn auch durch eine technische Panne, die innere Qualität der flachen, komplett grafisch durchstrukturierten Gemälde von nur Buchformat bis Superbreitwand sichtbar oder vielmehr spürbar: ein Mantra, ein Flüstern, eine Beschwörung, ein Gesang. Dessen Refrain lautet: „This land is your land, this land is my land, from California to the New York Island.“ Es ist eine ganz und gar patriotische, jedoch höchst subjektiv chiffrierte Malerei, die alle verfügbaren Infos aus Europa abgesaugt hat, um sie in etwas Uramerikanisches zu transferieren, was die Bildsymbole der indigenen Völker einschließt.

Georgia O’Keeffe liegt kunstgeschichtlich zwischen Vincent van Gogh und Ed Ruscha (der eine für den Animismus, der andere für die Coolness der Vista), mentalitätsgeschichtlich zwischen Walt Whitman und Patti Smith: eine Tradition, in der die sexuelle Identität sich mit der Selbstschau des demokratischen Bürgers verschränkt, der für immer Siedler bleibt, Anfänger ein Leben lang.

O’Keeffe wird seit hundert Jahren nachgesagt, ihre Message sei letztlich „Sex“. Genauso könnte man sagen: sich selbst zu überleben. Als die Lichter wieder angehen, ist der Schock massiv.

Georgia O’Keeffe, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, bis zum 22. Mai 2022. Katalog, 208 Seiten, 58 Euro