Einer von den Bienenfleißigen

Dem Leben eines deutschen Kaufmanns in Shanghai widmet die Literaturwissenschaftlerin Christine Maiwald ein dickes, kundiges Buch – es ist auch die Erkundung ihrer eigenen Geschichte

Abschiedsfoto: Hermann W. Breuer und sein Sohn im Jahr 1923 Foto: Archiv Christine Maiwald

Von Frank Keil

Weihnachten 1940 bezieht er mit seiner zweiten Frau eine neue Wohnung. Entsprechend neue Gardinen hängen, neue Teppiche liegen aus, auf dem Tisch steht Meissner Porzellan. Der Tannenbaum stammt diesmal aus Japan, nicht wie sonst aus der Mandschurei. Chinesische Freunde haben sogar einen Puter organisiert. Nach dem Mittagessen wird man ausreiten. Doch die Sorgen lassen sich nur bedingt in Schach halten: Wie wird es weitergehen mit Shanghai, dieser Enklave im weitgehend japanisch besetzten China, in die sich eine halbe Million Chinesen geflüchtet haben – und rund 15.000 europäische Juden?

„Das schwierige schöne Leben“ betitelt Christine Maiwald ihren 670-Seiten-­Recherche-Bericht über den Kaufmann Hermann W. Breuer. Der war von 1906 bis 1953 für das Bremer Handelshaus Melcher vor Ort und damit fast ein halbes Jahrhundert; vom einfachen Mitarbeiter stieg er über die Leitung der Importabteilung bis zum „Financial Advisor“ der Deutschen Handelskammer in Shanghai auf. Zehn Jahre lang hat die Literaturwissenschaftlerin an dem Stoff gearbeitet: Sie arbeitete Breuers umfangreiche Korrespondenz auf, sprach mit Zeitzeugen, tauchte ab in die Archive; dazu diverse Reisen, auch nach Shanghai, klar.

Herausgekommen ist eine entsprechend wuchtige Schrift, die vieles ist: erzählte Wirtschaftsgeschichte, ein Blick auf die erste Hälfte des 20 . Jahrhunderts, aber eben nicht von Europa aus; und nicht zuletzt die privat grundierte Biografie eines Mannes, den sie selbst aus frühen Kindertagen kannte: Denn Hermann W. Breuer ist Maiwalds Groß- und Lieblingsonkel gewesen. Zum ersten Mal begegnet sie ihm als Fünfjährige, aber auch als Teenager bewunderte sie seine souveräne Gewandtheit und seinen zuweilen spröden Humor. Und so hat sie sich aufgemacht seinen Spuren zu folgen – in einer ganz eigenen, damals von Europäern dominierten Welt. Die machten die Geschäfte in Shanghai, sie bestimmten und prägten das gesellschaftliche Leben. Den Chi­ne­s:in­nen vor Ort war die Rolle des Dienstpersonals zugedacht. Sehr ­selten, dass jemand von ihnen zu gleichwertigem Wohlstand kam, dabei war in den Clubs oder Theatern, auf der Rennbahn anzutreffen; sehr selten, dass überhaupt mal ein chinesischer Name fiel.

Manchmal mag man angesichts der enormen Fülle an Details, an Querverweisen, Namen über Namen, den Faden kurz verlieren. Aber man hält ihn schnell wieder in der Hand: Kundig-erklärend skizziert Maiwald die großen und in der Regel gewaltsamen Einschnitte und Umwälzungen wie den Ersten Weltkrieg, währenddessen die europäische Community auseinanderbricht. Oder wie sich in den folgenden Jahren die europäischen Exilant:innen wieder annähern – bis zum Aufkommen des Nationalsozialismus auch im 10.000 Kilometer entfernten Shanghai.

Enorm detailreich aufgeschrieben

Die Autorin nimmt sich aber immer wieder auch Zeit und Raum, um vorgeblich kleine Geschichten zu erzählen: Noch am 2. Mai 1945 etwa stimmte das Kollegium im Shanghaier Deutschen Gymnasium darüber ab, ob es nach dem Suizid des „Führers“ zur Begrüßung noch „Heil Hitler“ heißen soll – oder nun „Heil Dönitz“; am Ende entschied man sich für „Guten Tag“. Oder die Geschichte von Heinz-Egon Heinemann, im Mai 1939 in Shanghai angekommen: Bei dem Berliner Antiquar und Händler kauften jüdische Emigranten ebenso ein wie Deutsche, die aus ganz anderen Gründen in Shanghai lebten. Er wurde inhaftiert, als er nach Kriegsende die Ausreise nach Kanada beantragte – die neue chinesische Obrigkeit beschuldigte ihn, für die USA zu spionieren.

Breuer engagierte sich damals für die Notgemeinschaft der Auslandsdeutschen, in der nicht zuletzt die verbliebenen Anhänger der Nationalsozialisten sich unauffällig einzugliedern versuchten, untertauchen wollten, während der Bürgerkrieg zwischen den chinesischen Nationalisten und den Kommunisten sich zuspitzte. 1952 konnte – und musste – er Shanghai verlassen. Er konnte, weil ihm die chinesischen Behörden, nun fest in KP-Hand, schließlich doch erlaubten, das Land zu verlassen. Zuvor war er, wie viele andere Auslandsdeutsche, immer wieder auch scharf befragt worden – er kommt auf 25 Vorladungen. Er musste aber auch gehen: Wegen des Korea-Kriegs wurde es für Europäer:innen immer heikler.

Interesse auch an vermeintlich kleinen Geschichten: Christine Maiwald Foto: privat

Breuer reiste per Zug ins damals so selbstverständlich britische Hongkong und war in Sicherheit. Zurück in Deutschland, ließ er sich in Bremen nieder, wo er bald mit dem Bundesverdienstkreuz bedacht wurde – für seinen Einsatz für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und China. Er beriet den China-Ausschuss der deutschen Wirtschaft und das Auswärtige Amt, wurde Vorsitzender des Ostasiatischen Vereins Bremen (OVB). 1973 verstarb Hermann W. Breuer, da hatten sich die Wirtschaftskräfte der Bundesrepublik gerade aufgemacht, China als lohnend wieder zu entdecken.

„Kulturelle Welterfahrung mitgebracht“

„Wir erinnern uns, mit ein wenig Bedauern, dass es solche Biografien wie die seine – von Kaufleuten und anderen, die Jahre ihres Lebens in fremde Kulturen eintauchen und diese tiefe kulturelle Welterfahrung in ihre erste Heimat mitbrachten – heute kaum mehr gibt“: So formuliert es der langjährige Vorsitzende des OVB, Arend Vollers, in seinem kurzen Geleitwort. Er macht damit – vermutlich unbeabsichtigt – deutlich, womit die Autorin ringt: um den richtigen Ton, die passende Distanz, nicht zuletzt einen kritischen Blick: ihrem Gegenstand aus Fleisch und Blut gegenüber, aber auch gegenüber den Erzählungen von vorgeblich großen, einsamen, bienenfleißigen Männern, die auszogen, uns eine ferne Welt zurück zu bringen – nicht nur in Form von Reis und Tee und Gewürzen und Stoffen.

Maiwalds Buch enthält dem gegenüber eine geradezu komplexe Beweisführung: Die eine, die „erste Heimat“, sei genauso ein Konstrukt „die fremde Kultur“. Erst im beständigen Zusammentreffen wie dem Auseinanderdriften unterschiedlicher Lebenssphären entstünden neue Soziotope.

Christine Maiwald: „Das schwierige schöne Leben. Ein deutscher Kaufmann in Shanghai. 1906 bis 1952.“, Dölling und Galitz 2021, 670 S., 29,90 Euro

Lesung und Gespräch: So., 13 .2., 17 Uhr, Hamburg, Literaturhaus (2G+). Anmeldung unter lit@lit-hamburg.de erbeten.