Die Insel im Fjord

Eine Entdeckung: Roy Jacobsens norwegischer Nachkriegsroman „Die Kinder von Barrøy“

Roy Jacobsen: „Die Kinder von Barrøy“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann. C. H. Beck Verlag, München 2021, 270 Seiten, 24 Euro

Von Katharina Granzin

Der Buchmarkt kann so ungerecht sein. Wie oft wird aus Pillepalle ein Bestseller, und wie viel öfter noch gehen richtig gute Bücher in der Flut der Neuerscheinungen unter! Ein Autor, der hierzulande sehr zu Unrecht, vor allem von der Kritik, stiefmütterlich behandelt wurde, ist der Norweger Roy Jacobsen. Zwar liegen etliche seiner Romane in deutscher Übersetzung vor, bekamen aber jahrelang nie so weitreichende mediale Aufmerksamkeit, dass irgendeiner der verschiedenen Verlage, bei denen sie erschienen, sich durchringen wollte, den Autor dauerhaft zu betreuen.

Das hat sich möglicherweise geändert, seit der C. H. Beck Verlag sich der Sache annahm. Die Übersetzung von Jacobsens Roman „Die Unsichtbaren“, erstmals 2015 auf Deutsch erschienen, erfuhr vor zwei Jahren eine Neuausgabe im neuen Verlag, vor Kurzem nun gefolgt von einem aktuellen Roman aus derselben Reihe: „Die Kinder von Barrøy“. Es handelt sich um den vierten Teil von etwas, das im deutschen Buchmarketing-Sprech (und das ist sicher auch ein Teil des Problems) als „Insel-Saga“ verkauft wird – ein Label, das so viele Heimatroman-Assoziationen aufruft, dass die so etikettierten Bücher es bei der deutschen Literaturkritik natürlich schwer haben müssen.

Los der „Deutschenbälger“

Richtig ist, dass „Die Kinder von Barrøy“ auf einer Insel spielt. Und der Saga-Begriff, dessen Bedeutung mittlerweile so ins Triviale abgestiegen ist, bezieht sich ursprünglich auf altnordische Heldenerzählungen, ist also im Grunde genommen auch gar nicht komplett fehl am Platz. Wie auch immer; darum geht es: Auf Barrøy, einer kleinen Insel in einem großen Fjord, lebt nur ein rundes Dutzend Menschen. In ihrem Zentrum steht eine Frau, Ingrid Barrøy. Ihr gehört die Insel, und die Menschen um sie herum sind zum Teil mit ihr verwandt und zum anderen Teil wahlverwandt, denn es gehört zu Ingrids Wesen, sich anderer anzunehmen.

Mit einem solchen menschlichen Neuzugang beginnt der Roman. Ein kleiner Junge strandet in Ingrids Obhut, denn seine Mutter ist verschwunden, und sein Vater, ein wortkarger, einfacher Mann, der mit seinem Schiff die Milch auf die Inseln zu bringen pflegte, geht aus Verzweiflung über Bord und hinterlässt ein leeres Schiff. Das Schicksal des Jungen, dessen Vater nicht sein leiblicher Vater war, ist ein wichtiger Seitenstrang im Roman. Jacobsen thematisiert damit das oft schwere Los der „Deutschenbälger“, Kinder von deutschen Soldaten, die nach dem Krieg in Norwegen in Heime abgeschoben und gesellschaftlich ausgegrenzt wurden.

Auf Barrøy und den Nachbarinseln aber ist die Herkunft des Jungen einerlei, ebenso wie diejenige von Ingrids leiblicher Tochter, deren Vater ein russischer Kriegsgefangener war, den sie nie kennengelernt hat. Nunmehr kommt die Außenwelt zu Ingrid nur noch, wenn sie hin und wieder die Post erreicht, durch Zeitungen und Briefe – zunächst in den Schreiben einer Freundin aus Kriegszeiten, die in Trondheim ein gepflegtes bürgerliches Leben führt; später in den Briefen der Ziehtochter Suzanne, die nach Oslo gegangen ist und von den oft unbegreiflichen Regeln des Zusammenlebens in einer Genossenschaftssiedlung erzählt.

Das Leben der Inselbewohner verläuft derweil noch lange nach ganz anderen Regeln, vornehmlich denen der Natur. In bescheidenem Rahmen wird Landwirtschaft betrieben; jährlich kommen die Eiderenten zum Brüten, deren Daunen gesammelt, gereinigt und verkauft werden; die Männer fahren hinaus zum Fischfang, und der Hering, den sie mitbringen, wird von den Frauen und Kindern eingesalzen und haltbar gemacht. Es ist ein von Arbeit erfülltes Leben. Jacobsen idealisiert es nicht, er verklärt auch die Natur nicht, thematisiert sie überhaupt wenig – wobei es eine grandiose Schilderung einer Walsichtung gibt.

Aber es geht ja um die Menschen. Und das Schönste an diesem Roman ist vielleicht, dass der Autor keinesfalls so tut, als wüsste er alles über seine Figuren. Er erklärt sie nicht, drängt sich ihnen und sie uns nicht auf, er lässt ihnen ihren eigenen Raum. Es bleibt in allem ein Rest Unbegreifbarkeit, und in dem liegt eine ganze Welt.