Fortschreitende Digitalisierung: Was für ein Scheiß

Die beknackte Digitalwelt wird immer weiter ausgebaut. Dabei haben wir eigentlich eine prima echte Welt, um die wir uns kümmern sollten.

Der Softwareentwickler Onyx Ashanti hat seine Hand und seinen Kopf verkabelt.

Tschüss analoge Welt: Demonstration eines digitalen Exo-Skeletts 2019 in New York Foto: dpa / Axel Heimken

Für einige Phänomene des Lebens fehlt mir jegliches Verständnis. Neben religiösem Fanatismus und Duftkerzen zählt dazu auch der Glaube an das Heil durch Digitalisierung. Zugegeben, es ärgert mich, dass ich seit 14 Jahren ständig dieselben Anträge für unseren Sohn mit der Hand ausfülle und per Post verschicke – und dass ich immer noch nicht seine Krankenkassennummer auswendig weiß. Immerhin muss ich nicht jedes Mal unsere Adresse nachschlagen, deren Buchstaben ich auf jedem einzelnen Blatt in zu schmale, schwarz umrandete Rechtecke malen soll.

Ich kann das nicht mit personalisierten Vorlagen online erledigen – aber woanders bauen sie ein Metaversum? Wozu, außer um nie wieder in eine Behörde zu müssen, brauchen wir das bitteschön? Wir haben doch ansonsten eine prima echte Welt. Vielleicht sollten wir uns erst mal um deren Erhalt kümmern? Mit dieser beknackten Digitalwelt wollen doch nur wieder Leute Geld verdienen, indem sie Nutzerdaten sammeln, um uns dann mit Werbung zu verstrahlen. Ich habe schon lange aufgegeben Cookies abzulehnen, aber ich räche mich dafür, indem ich NIEMALS eine Anzeige anklicke.

Ich bin ohnehin so sozialisiert worden, keiner Werbung zu glauben. „Reine Volksverblödung“ hat mein Vater gesagt. Darum durften wir Zuhause auch keine Privatsender schauen. Statt Knight Rider zu gucken, waren wir gezwungen, draußen zu spielen. Und Spinat mit Blubb gab’s auch nie. Eine schwere Kindheit! Wir kannten natürlich trotzdem alle Werbeslogans, allein schon, weil die anderen sie ständig aufgesagt und gesungen haben.

Wir hatten zum Glück auch Freunde, wo wir mal sehen konnten wie ein dicker Mensch durch die Decke kracht, weil er einen falschen Fruchtquark gegessen hatte. Doch Dank meines Vaters habe ich bis heute eine Kaufhemmung bei allen stark beworbenen Marken und halte die Existenz von Gefrierbrand für die Erfindung einer Plastiktütenfirma.

Lernapps sollen vorteilhaft sein? Kapier ich nicht

Auch meine Tochter würde ich am liebsten von Werbung fernhalten. Natürlich ist das unmöglich, solange wir nicht in einem Erdloch wohnen – besonders seit die Schule digital sein soll und Material in kostenlosen Lernapps hochlädt. Von einem Wettbewerbsmodus und den Reklamebannern abgesehen, bieten diese aus meiner Sicht nichts, was über Oldschool-Karteikarten für Vokabeln hinausgeht – trotzdem wird’s gemacht. Kapier ich nicht.

Und wie kann es sein, dass Menschen in Konzerte gehen, wo statt echter Musiker alterslose Avatare auf der Bühne stehen? So einen Scheiß hätte ich erst im Metaversum erwartet. Ob es dort noch ganz normale Menschen gibt? Also mit dickem Hintern, kleinem Busen, Pickeln oder Behinderungen und so?

Solange wir beim Zahnarzt noch Stempelabdrücke in einem Bonusheftchen brauchen, um bei der Krankenkasse (die jeden dieser Besuche selbst abgerechnet hat) zu beweisen, dass wir wirklich dort waren, sollten wir dringend die Finger vom Bau einer virtuellen Parallelwelt lassen. Es scheint mir so sinnvoll, wie unser Streben nach Unsterblichkeit, obwohl wir doch noch nicht mal gelernt haben, im Augenblick glücklich zu leben. Außerdem müssten wir seit Star Trek Next Generation wirklich wissen, wie gefährlich das Holodeck sein kann! Aber die Zukunft wiederholt sich ja bekanntlich, also muss das Metaversum wohl sein.

Mir bleibt nur, meiner Tochter so sehr auf die Nerven zu gehen, wie mein Vater mir früher, indem ich sie zwinge, wenigstens ihre Kindheit mit echten Dingen zu verbringen. Zum Glück hat sie Zuhause auch noch ihren brutal analogen Bruder, der uns vorlebt, wie glücklich man sein kann, ohne Selbstoptimierung oder Konsum (außer natürlich dem von High-Carb-Nahrungsmitteln). Willi zeigt uns, dass wir keine pseudo Welt brauchen, in der wir so sein können, wie wir wollen, sondern nur eine, in der wir so sein wollen, wie wir sind!

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Geboren 1973 in Hamburg. Seit sie Kinder hat schreibt die Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Einkaufszettel und Kolumnen. Unter dem Titel „Die schwer mehrfach normale Familie“ erzählt sie in der taz von Ihrem Alltag mit einem behinderten und einem unbehinderten Kind. Im Verlag Freies Geistesleben erschienen von ihr die Kolumnensammlungen „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“. Ihr neuestes Buch ist das Kindersachbuch „Wie krank ist das denn?!“, toll auch für alle Erwachsenen, die gern mal von anderen ätzenden Krankheiten lesen möchten, als immer nur Corona. Birte Müller ist engagierte Netzpassivistin, darum erfahren Sie nur wenig mehr über sie auf ihrer veralteten Website: www.illuland.de

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